Lobby strampelt sich frei

RAD Der ADFC findet, dass der Senat seine Radverkehrsstrategie nicht ernst nimmt, und legt ein eigenes „Umsetzungskonzept“ vor

Grüne Welle für Radfahrer? Groß angekündigt, aber nur einmal umgesetzt

VON CLAUDIUS PRÖSSER

Als politische Kampfradler sind die Pedal-Lobbyisten vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) zuletzt eher selten aufgefallen, die Lust an der Konfrontation mit dem Senat war nicht allzu ausgeprägt: „Wir stehen nicht vor dem Rathaus, sondern sitzen drin“ ist auch heute noch ein Motto des Clubs, der sich als berechenbarer Partner der Verwaltung begreift. Vor diesem Hintergrund wirkten die Forderungen, die der Berliner ADFC am Dienstag der Presse präsentierte, regelrecht rebellisch.

Von Revolution kann allerdings gar nicht die Rede sein: Im Hauptquartier an der Brunnenstraße wäre man schon froh, wenn die geltende Radverkehrsstrategie des Senats von 2013 umgesetzt würde. Denn da stehen lauter gute Dinge drin, über den rollenden und den ruhenden Radverkehr, über sicheres Fahren und die Verknüpfung mit dem ÖPNV. Aber, so Vorstandsmitglied Bernd Zanke: „Das sind 26 Seiten, die nicht mit Leben erfüllt wurden.“ Und Eva-Maria Scheel, die Landesvorsitzende, konstatiert massive „Frustrationen“ bei Berlins RadlerInnen.

Der ADFC zieht gerne andere Städte zum Vergleich heran, wenn es um die Frage geht, ob Berlin das selbst gewählte Label „Fahrradstadt“ verdient. Scheel nannte am Dienstag nicht nur das leuchtende Vorbild Kopenhagen und das deutsche Musterstädtchen Münster, sondern auch München als Modell. „In diesen Städten ist der Radverkehr Chefsache“, erklärte sie. An der Isar habe man die Haushaltsmittel für den Radverkehr auf jährlich 4,5 Millionen Euro verdreifacht, dagegen schneide das mehr als doppelt so große Berlin mit nominell 6 Millionen Euro schlecht ab.

Dazu muss man wissen: Bei der Frage, wie viel Geld tatsächlich in den Radverkehr investiert wird, liegen ADFC und Verkehrsverwaltung über Kreuz. Der ADFC addiert den Posten von 4 Millionen Euro für die Neuanlage von Radinfrastruktur und den für den Unterhalt bestehender Radwege in Höhe von 2 Millionen. Von der Summe, so die Lobbyisten, seien 2014 rund 40 Prozent gar nicht ausgegeben worden und in den Haushaltstopf zurückgeflossen. Macht gerade mal 1 Euro pro Einwohner und Jahr, wo doch der Nationale Radverkehrsplan (NRVP) der Bundesregierung 5 Euro als Ziel vorgibt – ein Ziel, das die Berliner Radverkehrsstrategie explizit übernommen hat.

Die Verkehrsverwaltung macht eine andere Rechnung auf: Für den Radverkehr würden zusätzlich Mittel aus ganz unterschiedlichen Haushaltstiteln ausgegeben – zum Beispiel der Tourismusförderung. Rechne man noch allgemeine Straßenbaumaßnahmen hinzu, von denen Radfahrer profitierten, könne man rund 12 Millionen Euro im Jahr veranschlagen. Unter dem Strich stünden also eher 4 Euro pro Nase.

Aber spätestens seit gestern denkt der ADFC ohnehin in ganz anderen Dimensionen – auch weil der inzwischen bis 2020 fortgeschriebene NRVP das Ziel auf 10 Euro pro Einwohner erhöht hat. Bernd Zanke erläuterte das Kernstück des „Umsetzungskonzepts zur Berliner Radverkehrsstrategie“, an dem man ein Dreivierteljahr gebastelt habe: eine massive Personalaufstockung auf allen Ebenen.

Die Senatsverwaltung bekäme nach dem ADFC-Konzept 10 neue Vollzeitstellen für alle möglichen Fahrradbelange, sprich: ein eigenes Referat für den Radverkehr. In den Bezirken müssten es insgesamt 132 Vollzeitstellen sein – jeweils eine Ingenieursstelle und 10 Ordnungskräfte, die für mehr „Regelakzeptanz“ sorgen – also etwa dafür, dass Radstreifen nicht mehr zugeparkt werden. Und schließlich dürfte sich die Polizei über eine Aufstockung der frischgebackenen Fahrradstaffel auf 60 Beamtinnen und Beamte freuen.

Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Für den ADFC ist das die falsche Frage: Laut Bernd Zanke verschlingen alle Berliner Straßenbaumaßnahmen – ohne Bundesautobahnen – rund 300 Millionen Euro im Jahr, also das Zehnfache der 30 Millionen, auf die man kommt, wenn man das 10-Euro-Ziel des Nationalen Radverkehrsplans ernst nimmt.

Mit einer großzügig bemessenen Personaldecke, so das Kalkül des Fahrradclubs, würden viele Infrastrukturmaßnahmen beschleunigt, die heute im Hin und Her der Verwaltungsebenen versanden. Da gebe es ja gute Ansätze, nur komme nichts voran: Grüne Welle für Radfahrer? Groß angekündigt, aber in einer einzigen Straße in Schöneberg umgesetzt. Onlinedialog zu gefährlichen Kreuzungen? Ein voller Erfolg, aber nichts ist passiert. Fahrradparkhäuser an Bahnhöfen? Am Ostkreuz sei jetzt eines mit maximal 1.000 Plätzen geplant, gebraucht werde die dreifache Kapazität.

Am Ende jedes Radwegs wartet eine rote Ampel. In diesem Fall ist es die Realitätstauglichkeit des Konzepts. Dass hier mit dem amtierenden Senat wenig zu holen ist, sehen auch Scheel und Zanke so. Aber im kommenden Jahr werde ja gewählt.

Darauf angesprochen, welche Leuchtturmprojekte dem Radverkehr etwas Glanz verleihen könnten, nennt Zanke die Idee, die stillgelegte S-Bahn-Trasse der Siemensbahn als Nordwest-Viadukt zu ertüchtigen. Und Eva-Maria Scheel schwebt die Freigabe einer ganzen Spur auf der Ost-West-Achse Kaiserdamm–Bismarckstraße–17. Juni für Fahrräder vor – möglichst mit grüner Welle. Für den Senat womöglich Visionen, die medizinisch geschultes Personal verlangen.