Eine Insel glücklichen Lernens

ALTERNATIVSCHULEN In Mexikos Dörfern schließen sich gut gebildete Eltern zusammen und gründen eigene Schulen. Die einfache Landbevölkerung zieht nicht mit

„Die Dorfbewohner fragen, ob wir denn etwas Besseres wären“

EVA BODENSTEDT, MUTTER UND SCHULGRÜNDERIN

AUS SAN AGUSTINILLO MARTA POPOWSKA

Das Tor der Grundschule in San Agustinillo ist verschlossen. Die Lehrer streiken. An diesem Morgen wirkt das Gelände hinter dem Maschendrahtzaun trist – trotz der malerischen Pazifikkulisse. Die menschenleere Grundschule im südlichen Bundesstaat Oaxaca könnte überall in Mexiko stehen, denn streikende Lehrer und geschlossene Schulen kennzeichnen das öffentliche Bildungssystem seit Jahren.

Auf der anderen Seite der Hauptstraße ist Kindergeschrei zu hören. Das Gebäude war mal ein Hotel, seit zwei Jahren ist es eine Schule, das Centro Educativo Intergral Bilingüe Alternativo, kurz Ceiba. Es ist zwar Zufall, dass die Anfangsbuchstaben den Namen des tropischen Kapokbaums formen, doch wie der Baum auf fruchtbarer Erde, sollen auch ihre Kinder an der alternativen Schule gedeihen. Darin sind sich die Eltern einig.

Eine öffentliche Schule? Unvorstellbar!

Die gebürtigen Mexikanerinnen Eva Bodenstedt, 47, und Aline Fernandez Rebolledo, 41, gehören zu den Gründerinnen von Ceiba. Ihre Kinder an die öffentliche Schule nebenan zu schicken, kommt für die beiden Frauen nicht infrage. Auch eine Privatschule in der Großstadt scheidet aus. „Wir haben uns für einen alternativen Lebensstil entschieden“, sagt Rebolledo. Vor fünf Jahren begann die studierte Psychologin, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten. Befreundete Eltern fragten an, ob sich ihre Kinder dazugesellen dürften, und so saßen immer mehr Kinder in ihrem Wohnzimmer.

An 45 Tagen streikten die Lehrer im vergangenen Jahr in San Agustinillo. Dass für ihre sieben Jahre alte Tochter Fride zwei Monate lang der Unterricht ausfallen könnte, ist für Bodenstedt unvorstellbar. Die freie Autorin empfindet die öffentlichen Schulen außerdem als zu reguliert. Dort gebe es keinen Freiraum, schon gar nicht für Musisches. Das sei ihr aber sehr wichtig.

Als die beiden Frauen vor zwei Jahren das leer stehende Hotel fanden, haben sie zugeschlagen und eine Schule eröffnet. Aus einer Handvoll Kinder sind mittlerweile über zwanzig geworden, die aus fünf Dörfern kommen. Und es werden ständig mehr, obwohl das Ceiba nicht als staatliche Schule anerkannt ist. „Vor unserem Projekt gab es Eltern, die hier an die Küste ziehen wollten, aber nicht kamen, weil es in der Gegend keine gute Schule für ihre Kinder gab“, sagt Rebolledo.

Am Wochenende sind in Mexiko Regionalwahlen und die Finanzierung der Bildungsreform ist eines der großen Wahlthemen. Mexikos öffentliche Schulen haben einen schlechten Ruf. Nur etwas mehr als die Hälfte der 15- bis 19-Jährigen besucht nach der sechsjährigen Grundschule eine weiterführende Schule. In den internationalen Pisa-Studien der OECD rangieren Mexikos Schüler auf den hinteren Plätzen.

Die Regierung gibt die Schuld an den miesen Ergebnissen den Lehrern. Vor zwei Jahren verabschiedete Präsident Enrique Peña Nieto eine Bildungsreform mit dem Ziel, die vielen unqualifizierten Lehrer auszusortieren. Künftig sollen sich Lehrer regelmäßigen Leistungstests unterziehen, um ihre Jobs zu behalten. Das bringt die Lehrer auf die Barrikaden, deshalb streiken sie.

Der Sozialwissenschaftler Imanol Ordorika von der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko findet deutliche Worte: „Das ist keine Bildungs-, sondern eine Arbeitsmarktreform, die ausschließlich die Lehrer trifft.“ Denn nun darf sich jeder Uniabsolvent, auch ohne pädagogische Ausbildung, auf Lehramtsstellen bewerben. Auch das ist eine Möglichkeit, der Arbeitslosigkeit unter Akademikern zu begegnen.

Concepcion Moralez Lopez leitet die Grundschule von Agustinillo. Weder im Büro der Rektorin noch im Klassenraum gibt es eine Klimaanlage oder einen Ventilator. Sachlich zählt die Mittfünfzigerin auf, was sie für die wahren Ursachen der mexikanischen Bildungsmisere hält: die schlechte Ausstattung, fehlendes Schulmaterial und Eltern, „die sich nicht interessieren und bei uns nur dann erscheinen, wenn wir sie herzitieren“.

Es ist kurz vor Mittag. Gegenüber im Ceiba trudeln immer mehr Eltern zu einem Komiteetreffen ein. Wer seine Kinder hierher schickt, ist engagiert: im Elternrat, in der Öffentlichkeitsarbeit, selbst die Lehrer suchen sie gemeinsam aus. Die meisten, die ihre Kinder hier anmelden, stammen aus der gebildeten Schicht.

Während in der Grundschule gegenüber in einem heißen Klassenzimmer 72 Kinder auf drei Gruppen aufgeteilt unterrichtet werden, haben die knapp zwanzig Kinder bei Ceiba den Luxus von vier Lehrerinnen. Jeden Morgen begrüßen die Lehrerinnen jedes Kind persönlich.

Es mangelt weder an Spielsachen noch an Unterrichtsmaterialien. Es wird gesungen. Während die Kleinen unten gemeinsam Brot backen, lernen die Älteren im ersten Stock spielerisch Englisch. Alle sollen in ihrem eigenen Tempo lernen. Frontalunterricht gibt es bei Ceiba nicht. Die Elterninitiative nennt sich zwar nicht Waldorfschule, orientiert sich aber an den pädagogischen Ideen Rudolf Steiners.

In Mexiko gibt es 27 Waldorfschulen, 7 befinden sich in Gründung. „Die Nachfrage nach Waldorfschulen nimmt im Moment sehr stark zu. Mehrere Schulen, wie die in der Hauptstadt, haben lange Wartelisten“, sagt Andreas Schubert, Vorstandsmitglied der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners. Doch die fehlende Unterstützung seitens des Staates führe dazu, dass man von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern abhänge.

Die Dorfbewohner melden ihre Kinder nicht an

„Wir werden häufiger angesprochen, weshalb wir unsere Kinder nicht auf die normale Schule schicken. Die Dorfbewohner fragen, ob wir denn was Besseres wären“, sagt Bodenstedt. Aber darum gehe es nicht. Sie hätten versucht, jeden im Ort einzubeziehen und alle Bewohner zu einer Infoveranstaltung eingeladen. Ein paar Frauen wären gekommen, aber die meisten hätten nur auf den Boden gestarrt, während sie versucht habe für die Schule zu begeistern. „Am Ende war nicht eine Familie dabei, die ihr Kind auf unsere Schule schicken wollte“, sagt sie noch immer ein wenig fassungslos.

Vielleicht liegt es auch am Geld. Pro Kind muss man umgerechnet 920 Euro Schulgeld im Jahr aufbringen. Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von circa 650 Euro kann sich das nicht jeder leisten. Stipendien können die Ceiba-Gründerinnen nur vergeben, wenn das Geld dafür über Spenden reinkommt.

Ein Stipendium könnten auch manche von ihnen gut gebrauchen. „Mehr Schulgeld könnte ich nicht zahlen“, sagt Bodenstedt, die alleinerziehend ist und ihr Einkommen aufbessert, indem sie auf ihrem Grundstück Cabanas an Surfer und Touristen vermietet.

Ordorika kennt die Bemühungen, in kleinen Gemeinden alternative Schulen zu schaffen, aber die Lösung sieht er darin nicht. Dass seien oft Initiativen von Eltern aus der Mittelschicht. „Die Regierung muss zur Verantwortung gezogen werden und jedem Mexikaner eine qualitative Bildung zukommen lassen – wie es die Verfassung garantiert.“