Herr M.

ENDE Ein Leben mitten in Berlin. Während sich draußen die Welt dreht, macht er den Hinterhof zu seinem Refugium. Jetzt ist Herr M. gestorben

VON ROSEMARIE NÜNNING

Die Nachbarin erzählt es mir auf der Straße: Übrigens, Herr M. ist gestorben, war bei seiner Tochter, kollabierte, starb im Krankenhaus. Ein schneller Tod.

Herr M. hatte lange in diesem Haus an der Torstraße gewohnt, einer Ost-West-Achse nördlich des Alexanderplatzes. Es war vorstellbar, dass er hier geboren war und sich im Krieg als Kind bei Luftangriffen in den Kellern dieses Hauses verbarg. Mit einsetzender Altersverwirrtheit schien er es selbst zu glauben. So war es wohl nicht gewesen.

Herr M. lebte Hochparterre in dem fünfstöckigen Haus, das errichtet wurde, wo einst ein Verbindungspfad zwischen den Toren vor der Stadt lag. Ein Ackerbürger baute hier eine Scheune, ein Binnenschiffer ein erstes Wohnhaus, ein Maschinenfabrikant betrieb ein Lager für Dampfmaschinen, als die Stadt mit der Industrialisierung ihre Grenzen sprengte und der Pfad zur Lothringer Straße wurde. Mit jedem neuen Eigentümer wuchs das Haus, dehnte sich zur Seite und in den Hinterhof aus. Großbürgerliche Wohnungen entstanden, Zimmerfluchten mit Zwischentüren, Stuckdecken für die Rentiers, Kaufleute, Molkereibesitzer.

In den Seitenflügeln lagen die Kleinstwohnungen für das Proletariat – die Korkschneider, Zigarettenarbeiter, Hausdiener, Näherinnen. Dichterin Paula Dehmel war Eigentümerin und kurz lebte ein Kantor hier, der bei der Eröffnung der Synagoge ein paar Straßen nördlich sang. In der Nazizeit bekam die Eidgenössische Bank in Zürich das Haus in die Hand, nach dem Krieg übernahm die Deutsche Demokratische Republik das Gebäude, irgendwann wurden die Wohnungen aufgeteilt, um mehr Familien zu behausen, heute gleicht kein Zuschnitt dem anderen.

Ich zog bald nach der Wende ein. Noch hingen der Rauch der Kohlefeuerung und Zweitakterabgase über der Straße. Eine einfache Speisegaststätte westlich, ein besetztes Haus nordwestlich, in dem erste Treffen stattfanden, Nazizusammenrottungen entgegenzutreten, selbstverwaltete Häuser nördlich und südlich mit improvisierten Kneipen. Nicht lange, und schwere Transporter rumpelten Richtung Friedrichstraße, um das Berlin der Investoren zu schaffen.

Herr M. kam hierher, als die Straße nach Wilhelm Pieck benannt war, vielleicht in den 60er, vielleicht in den 70er Jahren. Klein, drahtig, agil war Herr M. Eine Hornbrille, die mit dem Alter immer größer zu werden schien, saß in seinem blassgrauen Gesicht. Er sprach ein grobes, lautes Berlinerisch, das aufschreckte, wenn es durch das Haus oder über den Hof schallte, weil es Entrüstung auszudrücken schien und oft nur eine Plauderei war. Es klang auch so, wenn er in versuchter Galanterie „Liebe Frau“ sagte und mir die Haustür offen hielt. Bei seltenen Anlässen trug er einen um seinen Körper schlackernden Anzug, meist jedoch erd- oder ölfleckige Hosen und karierte Flanellhemden oder Pullover.

Seine Ehefrau bekam ich zwei oder drei Jahre später zu sehen, als Herr M. und ich einen Disput im Hof hatten. Sie trat an das Fenster und ging mich unverständlich an. Spitz und bleich sah sie aus, die grauen dünnen Haare straff verknotet. Der hinter ihr sichtbar werdende dunkle Raum wirkte wie ein Verließ, aus dem die geisterhafte Gestalt aufgestiegen war. Die Wände waren von der Kaminfeuerung über die Jahre dunkel geworden, Putz bröckelte, die Gardinen hingen graustaubig und unbewegt. Ich sah Herrn M.s Ehefrau vielleicht noch zweimal bis zu ihrem Tod etliche Jahre später.

Herr M. und ich hatten einen Disput, weil er den Hof als private Reparaturwerkstatt für alte Autos benutzte. Die Geräusche fingen sich zwischen den Seitenflügeln und wurden verstärkt, so wie jedes Gespräch bei offenem Fenster wie mit einem Lautsprecher übertragen schien. Die defekten Autos hinterließen in der Durchfahrt zum Hof Öl- und Benzinlachen, die Abgase stiegen das Treppenhaus hoch. Eines Neujahrstags stürzte sich Herr M. gleich um acht Uhr früh in die Arbeit, schraubte, hämmerte, klopfte. Das war die letzte große Autoreparatur. Die Hausverwaltung hängte Schilder auf, das Abstellen von Autos im Hof wurde untersagt. Die Schilder wurden verbeult, verschwanden, aber das Verbot ward schließlich beachtet.

Seine erwachsenen Söhne, von denen anfangs noch zwei bei ihm wohnten, schlossen sich wie eine Phalanx zusammen, wenn sie einen Angriff von außen wähnten, eine Bitte, eine Beschwerde von Hausbewohnern. Solidarisch wurden Briefkästen der Angreifer mit „Fuck you“ bekritzelt, Drohschreiben in haarsträubendem Deutsch eingeworfen, tote Ratten auf Motorhauben gelegt. Ihr Umgang mit Eigentum war zweckgerichtet. Eines Tages stand Herr M. vor meiner Wohnungstür und überreichte mir den Brief mit meinem Sozialamtsscheck, der Umschlag zerknittert, fleckig und geöffnet. Der kleine Bereicherungsversuch war gescheitert, die Briefkastenklappe aufgehebelt. Versehentlich bei ihm eingeworfen der Brief, sagte Herr M.

Der Hof war Herrn M.s Refugium. Er wurde individualanarchistisch genutzt. Ähnlich wie in den Monaten relativer Freiheit nach dem politischen Umsturz unbesetzte Räume, Ruinen, Lücken schöpferisch und kritisch gestaltet wurden, als die Behörden der Demokratischen Republik nur noch notverwalteten und die Ämter der Bundesrepublik noch nicht übernommen hatten.

Herr M. begab sich an die Pflege der kleinen Grünfläche im hinteren Teil des Hofs. Die Besitznahme begann mit der Aufstellung eines rotmützigen, rotjackigen Gartenzwergs. Bald wurden Einzelbeete mit Holzplanken eingerahmt, große Betonblumenkästen als Barriere für das Gesamtwerk aufgestellt, eines Tages zog Herr M. einen zwei Meter hohen Zaun davor, bewehrte ihn mit Stacheldraht und baute ein Tor mit Schloss ein, um böse Buben davon abzuhalten, Blumen zu zertrampeln. Er schuf ein eigenartiges Wunder an grünenden und blühenden Pflanzen auf der mageren Krume über den alten Kellergewölben, das zugleich an der Hässlichkeit der Anlage scheiterte.

Als die neuen Eigentümer kamen, die das Haus nach der Rückübereignung von der Eidgenössischen Bank gekauft hatten, wurde das Ensemble aufgelöst, der Boden umgegraben und Rasen gesät. Herr M. half mit. In die Mitte wurden drei sperrige Oleandersträuche gesetzt, die erwartbar den ersten Winter nicht überlebten.

Während die neuen Eigentümer den Hinterhof lichteten, wurde die Straße immer stärker verdichtet. Drei wildwüchsige Grünflächen an der weiten Straßenkreuzung verschwanden. Eine wurde mit einem belanglosen Bürohaus in lachsbrauner Verkleidung besetzt, die andere mit einem Hostel, das sich immerhin mit weißer Leichtigkeit in das Gesamtbild fügte. Die dritte ging verloren unter einer klobigen Kaaba der neuen Mittelschicht, der in schwarzen Beton gegossenen selbstverliebten Depression der Architektin, die sie rücksichtslos den Anwohnern aufzwang und die nun die Straßenecke verstopfte.

Die Kreativwirtschaft, Nachfolgerin der künstlerischen Freiheit des Sommers der Anarchie nach der Wende, als Kunst für Kunst und Kultur für uns gemacht wurde, begann mit ihren spärlich ausgestatteten und hochpreisigen Lädchen, Galerien, Venues und Locations die Straßenschneise zu erobern, während sie südlich und nördlich der Torstraße schon von Verdrängung durch die Stores der Konzerne und touristische Durchschnittsgastronomie bedroht wurde. In das Haus zogen neue Bewohner aus Westdeutschland, England, Bolivien, Italien ein.

Herr M. bewegte sich ungerührt weiter in dieser schönen neuen Welt, wie er es vermutlich schon in der alten Welt getan hatte. Er pflegte eine anspruchslose Überlebenskunst in einem engen Radius. Nicht denkbar, dass er sich je mit der einen oder anderen Welt beschäftigt hatte. Denkbar, dass er nicht ein einziges Mal die nah gelegene Grenzmauer aufsuchte. Sein Leben schien von einer Zeitlosigkeit zu sein, die dem scheinbaren Stillstand der Demokratischen Republik ähnelte, während er selbst rastlos war.

Das Haus, der Hof, die Keller hatten sich seinen Bedürfnissen zu fügen. In den Durchgängen lagerte er, was sonst keinen Platz hatte, bis die Hausverwaltung einschritt und er seine Wohnung mit allen Dingen auffüllte, die vielleicht noch brauchbar waren. Der Hausstrom wurde für den Eigenbedarf angezapft, Glühbirnen für die Kellerbeleuchtung wurden für private Nutzung herausgeschraubt.

Wem er konnte, ließ Herr M. auch Fürsorge angedeihen. Für Frau V. in der ersten Etage besorgte er, selbst auf die siebzig zugehend, Post und Einkäufe, bis sie in ein Altersheim kam. Sie war eine der letzten alten Bewohnerinnen. Mit seinen Enkeln baute er im Hof eine Eisenbahn auf, beschaffte ihnen einen Traktor, einen Fußball und leugnete, wenn sie ein Kellerfenster zerschossen hatten.

Bei dem liebenswürdigen Händler K. an der Ecke mit seinem Zeitungs-, Tabak- und Krimskramsladen, einem der wenigen türkischen Zuwanderer, die den Sprung aus Westberlin über die imaginäre Grenze in den „Osten“ schafften, holte Herr M. das Spielzeug für seine Enkelkinder. Er ließ anschreiben, bis eine große Summe aufgelaufen war und Händler K. das Geschäft mit Herrn M. beendete. Bis zu dessen Tod versuchte er jeden Monat, wenn die Rente ausgezahlt wurde, einen Teil der Außenstände zu retten.

Mit zunehmender Vergesslichkeit brach Herr M., nun über achtzig, noch kleiner und grauer, seine Wohnungstür auf. Er riss Deckleisten ab, schlug die doppelte Isolierglasscheibe seines Fensters ein, weil er den Schlüssel nicht finden konnte.

Eines Morgens fand ich Herrn M. in der Herbstkälte vor der Haustür unter dem großen Torbogen mit eingegipstem Bein auf zwei Krückstöcken an die Wand gedrückt. Herr M. hatte geduldig gewartet, bis jemand kam und die Tür öffnete, weil er seinen Schlüssel wieder verloren hatte. Ich suchte vergeblich mit ihm in den regennassen Sträuchern im Hinterhof, wo er meinte, ihn fallengelassen zu haben.

Er wartete noch mehrmals vor der Haustür, mit zwei Krücken, dann mit einer. Nach drei Wochen setzte er sich wieder auf sein Klapprad. Ein Vierteljahr später sagte die Nachbarin auf der Straße: Übrigens …