Die streitbare Lust am Widerspruch

LITERATUR Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew ist einer der unbequemsten Intellektuellen seines Heimatlandes. Derzeit lehrt er als Gastprofessor an der Freien Universität

■ Die Samuel-Fischer-Gastprofessur am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft wurde 1998 ins Leben gerufen. Getragen wird sie von der Uni, vom Deutschen Akademischen Austauschdienst und der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, zu der Verlage wie Fischer, Rowohlt und Metzler gehören.

■ Eingeladen werden Schriftsteller aus verschiedenen kulturellen Kontexten. Zu den bisherigen Gästen gehörten Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“), der Somalier Nuruddin Farah („Blood in the Sun“) oder der aktuelle Booker-Preisträger László Krasznahorkai („Die Welt voran“) aus Ungarn.

VON MIRJA GABATHULER

Viktor Jerofejew hat eine Vorliebe für Sätze, die anecken. „Gogol war ein Idiot“, antwortet er bei seiner öffentlichen Antrittsvorlesung an der Freien Universität vergangenen Mittwoch auf die Frage einer Studentin nach Gogols Rolle in der russischen Literatur. Über den Widerspruch, der nach einer solchen markanten Aussage im Raum steht, geht Jerofejew hinweg. Er scheint sich gerne angreifbar zu machen.

Seit Beginn des Sommersemesters lehrt der 68-jährige Schriftsteller und Literaturwissenschaftler im Rahmen der Samuel-Fischer-Gastprofessur am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Gerade seine Lust an der Provokation machte ihn zu einem der bekanntesten russischen Gegenwartsautoren. Und zu einem umstrittenen – weil Jerofejew immer wieder unverblümt Kritik an Putins Regierung übt, wird er in der Öffentlichkeit als oppositioneller Provokateur wahrgenommen.

„Das meinten die bestimmt als Witz“, erwidert er trocken, darauf angesprochen, dass er in einem Artikel der FAZ als „der große Dolmetscher der russischen Seele“ bezeichnet wird. Doch so weit hergeholt ist der Vergleich mit einem Übersetzer zwischen zwei Welten nicht. Jerofejew, 1947 in Moskau geboren, weiß, wie sein Heimatland Russland tickt. Und wie Europa.

Seine Kindheit verbrachte er in Paris, wo sein Vater zu UdSSR-Zeiten als Stalins Dolmetscher und später als sowjetischer Botschafter beschäftigt war. Als junger Schriftsteller beteiligte Jerofejew sich an der Herausgabe des Literaturalmanachs „Metropol“ (1979) mit kritischen und jungen Stimmen der russischen Literatur. Und lehnte sich damit in einer Zeit, als Literatur auf einer Linie mit dem Regime sein sollte, zu weit aus dem Fenster: Die Beteiligten wurden durch Schriftstellerkollegen verunglimpft, Jerofejew aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen. Erst im Rahmen von Glasnost wurde er rehabilitiert. Sein erster Roman „Die Moskauer Schönheit“, 1989 in Russland veröffentlicht, machte ihn weltweit bekannt.

Bis heute lässt die russische Gesellschaft Jerofejew keine Ruhe. Immer wieder umkreist er das Thema Russland: als Literaturwissenschaftler, der an der Moskauer Lomonossow-Universität über „Dostoi“, wie er Fjodor Dostojewski kumpelhaft nennt, und den französischen Existenzialismus promovierte; als Schriftsteller von Romanen wie „Die Akimuden“ (2013 ins Deutsche übersetzt), der, gespickt mit surrealen Elementen, schildert, wie ein fiktives Russland der Zukunft von Untoten übernommen wird; und nicht zuletzt als Essayist, der auch versucht, LeserInnen im Westen die russische Denkweise nahezubringen.

Doch Jerofejew sucht sofort den Widerspruch, wenn man versucht, ihn auf eine bestimmte Rolle festzunageln, etwa die des Vermittlers. Das, sagt er im Gespräch in seinem neu bezogenen Büro in Dahlem, sei ihm viel zu moralisch: „Ich fühle mich in Europa als Europäer und in Russland als Russe. Aber zur gleichen Zeit fühle ich mich auch als Russe in Europa und als Europäer in Russland.“ Für seine Texte sei das essenziell: „Die zwei Kulturen werden sich gegenseitig zu Spiegeln. Das ist, als gehe man beim Schreiben mental durch einen langen Korridor von endlosen Spiegelungen. Es gibt den Gedanken die notwendige Freiheit.“

Lächelnd als Vampir

Jerofejew trägt beim Interview rote Turnschuhe, Jeans und einen Kapuzenpulli, den er für den Auftritt am Abend gegen eine Anzugsjacke tauscht. Die Sportschuhe in grellen Farben trägt er auch auf Autorenfotos, meist lässt er sich außerdem mit lässiger Zigarette im Mundwinkel ablichten und inszeniert sich in der Rolle des intellektuellen Popstars. Zu seinem Vortrag unter dem Titel „Writing in Russia“ hängt im Hintergrund ein Plakat von ihm, auf dem er verhalten in die Kamera lächelt. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man die Vampirzähne, die ins Bild eingefügt wurden.

Der Vortrag gibt einen Einblick in Jerofejews Seminar „Writing as the Unhuman Revolution“ (Schreiben als unmenschliche Revolution), das sich mit den Bedingungen des Schreibens in Russland gestern und heute befasst. Nach einem Schnelldurchlauf durch 200 Jahre russische Literaturgeschichte schließt er diese – empört – mit der russischen Gegenwart kurz. Das einfache Volk, in der Tradition der russischen Literatur stets als Inbegriff des von Natur aus guten Menschen verehrt, dieses Volk unterstütze heute zum großen Teil den Präsidenten. „Putin und seine Lügen sind ein Desaster für die russische Kultur“, sagt Jerofejew. „Und Europa ist nicht sehr hilfreich, weil Europa Russland nicht versteht.“

Über Russland hinaus lässt der Gastprofessor kaum ein gutes Haar an der Literatur der Gegenwart. Aktuell gebe es in Europa nur eine Handvoll bedeutende Schriftsteller, und die seien alle über 50. Sich selbst zählt er ebenso dazu wie den Franzosen Michel Houellebecq, der zuletzt mit „Soumission“ für Schlagzeilen sorgte. Was so wohl klärt, welchen Anspruch Jerofejew an Literatur hat. Gute Schriftsteller sind in seinen Augen mit ihren Aussagen immer streitbar.