Der zweigeteilte Leib

ESCHATOLOGIE Der Philosoph Giorgio Agamben deutet den Rücktritt von Papst Benedikt XVI. im „Geheimnis des Bösen“ als ethischen Akt

Im Liberalismus habe die Selbstregulierung die Gerechtigkeit abgelöst

Für gläubige Katholiken war es ein Schock. Als Papst Benedikt XVI. am 10. Februar 2013 seine Glaubensbrüder wissen ließ, dass er den Petrusdienst nicht länger ausüben könne, weil seine Kräfte „infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet“ seien, sprachen Kardinäle von einem „Blitz aus heiterem Himmel“ – der dann tatsächlich am folgenden Abend in die Kuppel des Petersdoms fuhr. Aus eigenem Willen abgedankt hatte zuletzt Papst Coelestin V. Man schrieb das Jahr 1294.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben sieht im Amtsverzicht Benedikt XVI. – anders als manch gläubiger Zeitgenosse – keinen feigen Rückzug eines gebrechlichen Mannes, sondern einen Schritt, der Mut verlangt. In seinem kurzen Buch „Das Geheimnis des Bösen“ spricht er gar von einer Entscheidung, die den Legitimitätsanspruch der katholischen Kirche „radikal infrage“ stelle. Zugleich rufe Benedikt XVI. damit zwei grundlegende Prinzipien „unserer ethisch-politischen Tradition“ in Erinnerung: Legitimität und Legalität.

Und schon ist Agamben bei den „demokratischen Institutionen“, die er wie die katholische Kirche im Niedergang begriffen sieht. Für beide gelte, dass Legitimität und Legalität „ihre je eigene Wirksamkeit“ entfalten müssen, um funktionieren zu können. Gegenwärtig sei dies nicht der Fall. In der Demokratie fehle es an einer „Kraft“, die der Gerechtigkeit politischen Ausdruck verleihe und sich so der „Nivellierung von Legitimität und Legalität“ entgegenstelle. Stattdessen habe im Liberalismus die Selbstregulierung die Gerechtigkeit abgelöst. Es herrsche der Glaube, dass man Gesellschaften „nach rein technischen Kriterien regieren“, mithin die Legitimität in der Legalität aufgehen lassen könne. Und in der Kurie sei man für Fragen nach der eigenen Legitimität „unempfänglich“.

Einen Lösungsansatz sieht Agamben in einem Artikel Joseph Ratzingers von 1956 über den Bischof Tyconius, der im 4. Jahrhundert wirkte. Tyconius, der als Ketzer galt, prägte in seiner Schrift „Liber regularum“ den Begriff des „zweigeteilten Leibs“ der Kirche. Die Kirche ist demnach zwiegespalten in einen sündigen und einen begnadeten Teil, sie vereint die „Niederträchtigen“ und die „Gerechten“ unter einem Dach.

Diese Zweiteilung der Kirche bleibe fortbestehen, bis ans „Ende der Zeiten“. Dann erst werde die Kirche vom „Geheimnis des Bösen beseitigt“, wie es bei Tyconius heißt. Agamben streift diese Fragen der Eschatologie, die sich mit den „letzten Dingen“ beschäftigt, sehr kursorisch, lässt anklingen, dass der Jüngste Tag, das „Ende der Zeiten“, nicht das einzige Szenario dieser letzten Dinge sei, wie es etwa in der politischen Theologie Carl Schmitts gedacht werde. Der Apostel Paulus hingegen spreche auch von der „Zeit des Endes“, in der die „Jetzt-Zeit“ als durchaus diesseitige Perspektive aufscheint. Nach dieser solle jeder Christ, zuvörderst der Papst, sein Leben ausrichten.

Agamben überträgt den Gedanken der Zweiteilung in Gut und Böse schließlich auf die weltliche Politik und verkündet, dass politisches Handeln – kirchlich wie profan – erst dann wieder möglich sei, wenn das Geheimnis des Bösen „in seinen eschatologischen Kontext“ gestellt werde. Das kann man übersetzen mit: Die Zweiteilung von Politik und Kirche muss in der Perspektive gedacht werden, dass alle, die an ihnen mitwirken, mit ihrem Handeln immer schon aktiv am Konflikt zwischen Gut und Böse teilnehmen. Das Böse, so Agamben, sei kein „theologisches Schauerdrama“, sondern ein „historisches Drama“. Darum zähle die Entscheidung eines jeden. Was aus säkularer Sicht nicht groß überrascht.

Das sind eine Menge Fragen, elegant zu einer Handvoll Thesen zusammengestellt. Die eigentliche Arbeit, hat man am Ende das Gefühl, ist noch nicht getan. Vom Rücktritt Benedikts XVI. einmal abgesehen. TIM CASPAR BOEHME

Giorgio Agamben: „Das Geheimnis des Bösen. Benedikt XVI. und das Ende der Zeiten“. Übers. von Andreas Hiepko. Matthes & Seitz, Berlin 2015, 80 S., 10 Euro