Nicht für immer auf dieser Welt

CANNES CANNES 9 Vor der Entscheidung über die Preise: Ein unebener Jahrgang präsentiert sich in Cannes. Tod und Sterben sind Leitmotive vieler Filme

Sterbende Mütter, hingebungsvolle Pfleger, lebensmüde Lehrer, das sah man viel auf dem Festival

VON CRISTINA NORD

Am Sonntagabend werden im Grand Théâtre Lumière die Goldene und die Silbernen Palmen verliehen. Darüber, welche Filme die Jury, der die Brüder Joel und Ethan Coen vorsitzen, auszeichnen, lässt sich nur spekulieren. Als Favoriten gelten Todd Haynes’ klassizistisches Drama „Carol“, Giorgos Lanthimos’ verspielt-düstere Zukunftsfantasie „The Lobster“, und auch „Saul fia“, das Debüt des ungarischen Regisseurs László Nemes, könnte einen Preis erhalten, weil es eine neue filmische Perspektive auf Auschwitz-Birkenau entwickelt und dabei eine beachtliche formale Virtuosität an den Tag legt.

Ob der Neuigkeitswert der entfesselten, um den Kopf des Protagonisten tanzenden Kamera tatsächlich auch zu neuen Erkenntnissen über das Lager führt, bleibt ungewiss, aber dieser Zweifel schreckt die zahlreichen Fürsprecher des Films nicht ab. Sollten cinephile Herzen in den Brüsten der Juroren und Jurorinnen pochen, stände der Gewinner fest: Hou Hsiao-Hsiens zurückhaltender Martial-Arts- und Historienfilm „Nie Yinniang“ („The Assassin“) ist von einer Erhabenheit, die nicht von dieser Welt zu sein scheint.

Lässt man die 19 Filme des Wettbewerbs Revue passieren, fällt auf, wie uneben dieser Jahrgang ist. Auf die Qualitätsansprüche, die das Festival an sich selbst stellt, war diesmal kein Verlass. Es gab recht viele mäßige Filme, abgelöst wurden sie durch den einen oder anderen guten und durch Hou Hsiao-Hsiens Pretiose. Doch die meisten Entdeckungen – Miguel Gomes’ Dreiteiler „As mil e uma noites“, Philippe Garrels „L’ombre des femmes“, Apichatpong Weerasethakuls „Cemetery of Splendour“ – ließen sich in den Nebenreihen machen.

Zudem gab es Regisseure wie Gus Van Sant, dessen Wettbewerbsbeitrag „Sea of Trees“ nicht einen Hauch dessen hat, was zum Beispiel „Last Days“ (2005) so besonders machte. Das Drama um einen lebensmüden, von Matthew McConaughey gespielten Lehrer, der nach Japan reist, um sich im Aokigahara-Wald das Leben zu nehmen, erhielt auf Twitter den Spitznamen „Sea of Cheese“, und das trifft die Sache ziemlich gut.

Tim Roth und die Patienten

Mit „Sea of Trees“ war zudem ein Leitmotiv markiert, das sich nach einer Weile etwas zu aufdringlich in den Vordergrund schob. Fast obsessiv kreisten die Filme um den Tod und darum, wie Menschen damit umgehen, dass sie und ihre Angehörigen nicht für immer auf der Welt sind. In „Chronic“ zum Beispiel, dem ersten in den USA gedrehten Film des mexikanischen Regisseurs Michel Franco, spielt Tim Roth einen Krankenpfleger, der Patienten im Endstadium ihrer Krankheit begleitet.

Er tut dies hingebungsvoll, vielleicht identifiziert er sich ein wenig zu sehr mit seiner Arbeit, womit er sich Schwierigkeiten einhandelt; Franco schaut ihm in ruhigen, lange stehenden Einstellungen zu. Er wahrt die Distanz, die die Figur nicht zu wahren imstande ist. Leider gibt sich der Filmemacher mit der zurückhaltenden Beobachtung nicht zufrieden, so dass er sie am Ende mit einem ärgerlichen Schockeffekt überschreibt.

Zwei Filme stehen im Zeichen einer sterbenden oder bereits verstorbenen Mutter: Nanni Morettis schöne Tragikomödie „Mia madre“, in der John Turturro sich austoben darf und Margherita Buy eine Regisseurin gibt, die von der Krankheit ihrer Mutter und von aus dem Ruder laufenden Dreharbeiten in eine tiefe Krise gestürzt wird. Der norwegische Regisseur Joachim Triers schaut in „Louder than Bombs“ einem Vater und dessen zwei Söhnen dabei zu, wie sie zwei Jahre nach dem Unfalltod der Mutter, einer Kriegsfotografin, durchs Leben gehen. Sensibel beobachtet ist das vor allem in dem Handlungsstrang, der dem jüngeren Sohn gehört, einem Teenager. In einer schönen Sequenz begleitet der Jugendliche das Mädchen, das er anhimmelt, nach einer Party nach Hause. Der Morgen graut, ihr ist speiübel, er kommt ihr für die Dauer des Heimwegs nahe und weiß zugleich, dass sie ihn am nächsten Schultag nicht mehr grüßen wird. Andere Erzählstränge dagegen geraten eher schablonenhaft, und aus der Figur der in Rückblenden auftauchenden, von Isabelle Huppert verkörperten Mutter macht Trier nichts.

Gérard Depardieu schwitzt

Am Freitag schließlich hatte Guillaume Nicloux’ „Valley of Love“ Premiere, ein wohltuend konzeptueller Film. Er spielt im Death Valley in der kalifornischen Wüste. Isabelle, eine berühmte französische Schauspielerin (wiederum Isabelle Huppert) und ihr Exmann Gérard, ein berühmter französischer Schauspieler (Gérard Depardieu), reisen dorthin, weil sie ihrem Sohn, der sich umgebracht hat, den letzten Wunsch erfüllen möchten. Der lautet, dass seine Eltern gemeinsam und einem ausgeklügelten Zeitplan folgend die Sehenswürdigkeiten wie Dante’s View, Mosaic Canyon und Badwater Basin aufsuchen.

Isabelle und Gérard leiden unter der Hitze, die massige Gestalt Depardieus und die Zierlichkeit Hupperts bilden einen interessanten Kontrast vor den Ockertönen der Canyons, und nach und nach sickert in den Film etwas ein, was sich den Gesetzen der Vernunft entzieht. Nur so viel ist gewiss: Langt ein Toter nach den Knöcheln oder Handgelenken eines Lebenden, hinterlässt sein Griff einen hässlichen, juckenden Hautausschlag.