Lange Märsche durch Flure und Straßen

DER DOKUMENTARIST Bernhard Sallmann hält deutsche Zustände fürs Kino fest, zum Beispiel im Behörden-Porträt „Deutsche Dienststelle“ (1999). Und er geht leidenschaftlich gerne, der Geschichte auf der Spur

Die Stadt wird zur Kulisse, auf die sich Sallmanns Wissen und seine Reflexionen projizieren

VON MATTHIAS DELL

Der beste Film zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus deutscher Perspektive stammt von 1999. Gedreht hat ihn ein Österreicher, Bernhard Sallmann, der seit Ende der achtziger Jahre in Berlin-Neukölln lebt. Der Film heißt „Deutsche Dienststelle“, was die gängige Bezeichnung einer unbekannten Behörde ist, deren vollständiger Name noch weiter geht („für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“) und deren Kürzel die Gefahr von Prominenz nicht erhöht („WASt“). Sie wird nur zu Jubiläen rausgeholt, gerade hat der Spiegel etwas geschrieben. Auch darüber, dass die Dienststelle in Berlin-Reinickendorf mit ihren 250 Mitarbeitern 70 Jahre nach Kriegsende unter Rechtfertigungsdruck steht.

Die Sorge, eines Tages obsolet zu werden, ist schon in Sallmanns Dokumentarfilm spürbar, der die mal obskure, mal komische Distanz der Behörde zur Gegenwart einfängt mit langen Märschen durch die Flure und Gänge des Hauses. Der Mitarbeiter Ludwig Norz, der sich selbst („inoffiziell“) als Hofnarren bezeichnet, aber eigentlich ein Archivphilosoph ist, denkt in den großen historischen Linien, zitiert als Analogie den Louvre heran und ahnt, dass irgendwann jemand fragen wird, wozu die ganzen Akten aufzuheben sind – „effizienzmäßig“ wäre auf den Militariamärkten damit noch Geld zu erlösen.

Der Ort der Deutschen Dienststelle, wie Sallmanns Film sie zeigt, ist damit schön beschrieben: Es geht nicht um vulgären Revanchismus, die Idee der Wiedergutmachung resultiert vielmehr in der korrekten Verwaltung des Zweiten Weltkriegs – „Die Nachkriegszeit muss zum Teil auch sehr schlimm gewesen sein, die ganze Administration lag darnieder“, sagt eine Angestellte über das bürokratische Selbstverständnis. Von Schuld redet hier keiner, obwohl die Frage danach permanent aufpoppt zwischen den Akten und all den Vermisstenschicksalen, Rentenansprüchen, Versicherungsproblemen.

Auf die Deutsche Dienststelle ist Sallmann gestoßen, weil er dort in den neunziger Jahren, als er an der FU Berlin studierte und noch nicht an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg, einen Studentenjob hatte. Und nicht durchs Laufen, Spazieren, Wandern, wie man sofort vermuten würde. Denn Sallmann ist ein großer Geher, einer seiner Filme heißt „400 km Brandenburg“, das „zu Fuß“, versteht sich von selbst.

Sein Terrain ist Neukölln – den Stadtteil hat er 2001 porträtiert, und eigentlich bedürfte es einer Fortsetzung, nur ist es unvorstellbar, dass das ZDF heute einen solchen Film produzieren würde. Sein Terrain ist Berlin, ist Brandenburg, ist die Lausitz (der er sich mehrmals in Filmen gewidmet hat), aber der eigentliche Grund des Gehens ist die Geschichte. Geschichte ist das, was erzählt werden kann, was Verbindungen herstellt, Bedeutung erzeugt, und wenn man nur ein paar Meter mit Sallmann läuft von dem Haus, in dem er lebt, seit er in Berlin angekommen ist, südlich des Richardplatzes, dann ist man sofort drin in diesen Erzählungen.

Am Britzer Verbindungskanal

Sallmann erinnert an das lange widerständige Neukölln („deutschlandweit die meisten Wähler gegen den Faschismus“), dann gerät der Platz des Geburtshauses von Günter de Bruyn in den Blick, der in seiner Autobiografie von seiner ersten Erfahrung gettoisierter Juden geschrieben hat, als er im Alter von 15 mit der einst hier wendenden Straßenbahn bis ins Scheunenviertel fuhr. Die Stadt wird zur Kulisse, auf die sich Sallmanns Wissen, seine Reflexionen und Beobachtungen projizieren wie durch einen live gesprochenen Film. Der Gang führt schließlich zum „letzten Toten des Zweiten Weltkriegs“, dem Ort am Britzer Verbindungskanal („hinter Jacobs Krönung“), an dem Chris Gueffroy im Februar 1989 bei der Flucht aus der DDR erschossen wurde. „Das weiß ich noch, dass ich die taz aufschlage – damals las ich noch Zeitungen –, es sei hier geschehen.“

„Damals las ich noch Zeitungen“: Der Filmemacher Sallmann wandert in der Geschichte zurück, über die NS-Zeit, Strindberg, Fontane bis ins Mittelalter. Der Film, den er gerade dreht, geht über das 500 Jahre alte Große Zittauer Fastentuch, den „ersten Bibel-Comic“. Beim Blick auf ein Plakat des Tuchs sagt Sallmann: „Es ist alles Lot, der Ruhetag, der Sündenfall, und dann kommt die Bewegung rein. Das als Auftakt zum Gehen.“

■ „Deutsche Dienststelle“ wird vom 11. bis 13. Mai im Berliner Kino in der Brotfabrik gezeigt, gemeinsam mit Sallmanns Film „Menschen am Kanal“ von 1999. Am Montag in Anwesenheit des Filmemachers