„Frauen trinken heimlich“

SUCHT Männer konsumieren Suchtmittel in der Öffentlichkeit, Frauen ziehen sich ins Private zurück. Elke Peine vom Verein „Frauenperspektiven“ spricht über weibliche Abhängigkeit

■ 57, Sozialökonomin und Pädagogin, ist Geschäftsführerin des Vereins „Frauenperspektiven“ in Hamburg. Der Verein ist seit 1989 Anlauf- und Beratungsstelle für suchtmittelabhängige Frauen und Mädchen.  Foto: VAR

INTERVIEW VANESSA RANFT

taz: Frau Peine, haben Süchte etwas mit weiblichen Lebenswelten zu tun?

Elke Peine: Auf jeden Fall. Die Süchte, die Frauen entwickeln, haben in der Regel sehr stark etwas damit zu tun, welche Erfahrungen sie im Leben gemacht haben. Etwa 60 Prozent aller Frauen, die eine Sucht entwickeln, hatten mindestens ein traumatisches Erlebnis, das sie langfristig versuchen, mit Sucht zu bewältigen.

Welche Erlebnisse meinen Sie genau?

Das kann zum Beispiel eine sexuelle Missbrauchserfahrung sein oder der Tod einer wichtigen Person in ihrem Leben. Das können Gewalterfahrungen sein, die in der Ehe immer wieder vorkommen, aber auch Erniedrigungs- und Vernachlässigungserfahrungen, die sie in ganz früher Kindheit erlebt haben. Man kann nie sagen, dass es einen einzigen Grund dafür gibt, warum eine Frau oder ein jugendliches Mädchen süchtig wird, denn es sind immer mehrere Faktoren, die zusammenspielen.

Können auch die Erwartungen des Umfeldes eine Suchterkrankung auslösen?

Ja, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Bei Frauen sind es Erwartungen, die den Rollenbildern entsprechen: Vorstellungen, wie eine Frau eigentlich sein soll, wie sie aussehen soll oder wie sie sich verhalten soll. Sogar ihr Erfolg wird häufig von ihrem Körper abhängig gemacht. Denn der Körper ist immer auch eine zentrale Ausdrucksfläche ihrer Persönlichkeit und das ist leider in den letzten Jahren durch Werbung und die Kosmetikindustrie sehr stark forciert worden. Und das kann dazu führen, dass Frauen ihren Suchtmittelkonsum verstärken, weil sie mit der Stresssituation nicht klarkommen.

Welche Suchtmittel konsumieren Frauen?

Zu uns kommen überwiegend Frauen, die von Alkohol abhängig sind oder Cannabis konsumieren. Frauen, die Opiate nehmen, gibt es sehr wenige. Und wir bemerken, dass viele Frauen in der Beratung zusätzlich zu ihrer Sucht Essstörungen entwickelt haben oder Medikamente einnehmen – Beruhigungsmittel und dergleichen.

Zeigen Frauen ein anderes Suchtverhalten als Männer?

Ja, eindeutig. Die Konsumform von Frauen ist tendenziell eher im Privaten und Heimlichen, die der Männer eher im öffentlichen Raum. In der jüngeren Generation gleicht sich das Konsumverhalten beider Geschlechter zwar immer mehr an, aber bei den über 30-Jährigen gibt es noch einen großen Unterschied. Frauen wurde schon immer weniger zugestanden, sich in der Öffentlichkeit zu betrinken, als Männern. Heute sieht man auch junge Frauen mit einer Bierflasche in der Hand über die Straße laufen, aber in den älteren Generationen ist selbst das undenkbar.

Wann suchen abhängige Frauen eine Beratungsstelle auf?

Ungefähr zehn bis fünfzehn Jahre nachdem sie ihren Konsum zum ersten Mal als problematisch wahrgenommen haben. Bei Männern ist das ähnlich.

Werden Frauen anders therapiert als Männer?

Erst mal sieht das nicht so aus, aber die Themen, die mit Frauen besprochen werden und die Art und Weise, wie vorgegangen wird, ist eine andere. Das muss sie auch sein, weil Frauen und Männer unterschiedlich sind. Tendenziell sind Frauen sehr stark beziehungsorientiert: Sie sind oft für die emotionale Befindlichkeit aller Familienangehörigen zuständig und das ist ihnen auch wichtig. Ein Mann macht sich oft wenig einen Kopf darum, wie es den anderen geht, aber die Frauen tun das eben. Das muss man bei der Beratung und auch bei der Therapie berücksichtigen.

Ist das der Grund, weshalb Ihr Verein ausschließlich Frauen therapiert?

„Frauenperspektiven“ wurzelt in der Frauenbewegung. Zu dem Zeitpunkt sind in den stationären Einrichtungen ungefähr zwei Frauen auf eine Gruppe von zehn Männern gestoßen. Das bedeutete, dass sie zum Teil mit ihren Themen überhaupt nicht zu Wort kamen, und wenn, haben sie sich in die Gefahr gegeben, sich schutzlos auszuliefern. Viele Frauenthemen können in einer Männergruppe nur schwer thematisiert werden. Das geht eigentlich nur, wenn man die ganze Gruppe vorher darauf vorbereitet und die Männer wissen, dass sie an bestimmten Stellen eben nicht lachen, keine Bemerkungen machen oder auch nach der Gruppensitzung nicht zu den Frauen gehen dürfen, um sie nochmal einzeln darauf anzusprechen.

„Frauen müssen herausfinden, welche Symptome und Notsituationen sie mit Alkohol oder opiathaltigen Mitteln betäuben wollen“

Und das gilt auch heute noch?

Wir haben immer noch Prämissen, wo wir sagen, die Parteilichkeit für Frauen ist uns auch heute noch sehr wichtig. Wir sagen nach wie vor: Frauen brauchen einen geschützten Raum, wo sie Themen besprechen können, ohne das Männer dabei sind – egal ob als Klienten oder als Psychotherapeuten.

Wie läuft dieses Gespräch ab?

Wir bauen eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung zu der Klientin auf. Sie muss wissen, dass wir sie hier als Frau annehmen, dass sie bei uns sicher ist. Insbesondere Frauen, die Opfer von Gewalt waren, müssen stabilisiert werden. Sie müssen erst einmal wieder Ruhe finden in ihrem Leben, herausfinden, wofür ihnen das Suchtmittel dienlich war. Welche Symptome und emotionalen Notsituationen sie immer wieder mit Alkohol oder opiathaltigen Mitteln betäuben wollen. Viele Frauen kennen es aus ihrem Privatleben, dass ihnen gesagt wird, was sie zu tun haben. Wir machen genau das Gegenteil: Wir begleiten sie, sodass sie ihre Zukunft selbst gestalten und ihren Suchtmittelverbrauch so verändern können, dass sie sich wieder richtig gut fühlen.

Kann eine Abhängige ihre Sucht komplett ablegen?

Ich würde sagen, ablegen, im Sinne von so leben, als wenn sie niemals eine Sucht gehabt hätte, nicht. Aber sie kann zufrieden und ohne Suchtmittel leben.