Andrej Mannsdorffs Tagebuch

Tgb. 7. Mai 1945 „Und so sieht der Tag aus, auf den wir seit 1933 gewartet haben! Eben, um 19.20, setzte das Glockenspiel von Holsworthy ein: die Friedensglocken. Heute Nachmittag wurde die deutsche Kapitulation unterzeichnet. Diese Friedensglocken, die das Ende der Naziherrschaft bedeuten. 1935 sehnte Vati diese Zeit herbei. Hoffentlich bald, sagte er, damit ihr nicht mehr rausmüsst. Dann kam der Krieg, und der Terror wurde immer brutaler. ‚Wenn sie läuten‘, schrieb ich Annelore (der Schwedin), werde ich dir Berlin zeigen.‘ Aber sie läuteten nicht, sie wurden eingegossen. Ob ich ihr je Berlin zeigen werde? Ob es Berlin noch gibt? Wie haben wir diese Stunde erwartet! Keiner der Engländer, die jetzt feiern, kann das erahnen. Keiner hat sie mehr ersehnt. Jetzt, Vati, tönen sie durchs Land. Kannst du sie noch hören? Kommen sie nicht zu spät? O ihr Millionen, die ihr sie noch gehört hättet, wären sie etwas früher geläutet worden. Wo möget ihr jetzt sein, Vati und Mutti, Ali und Gerda, Gretl und Hein, Jörg und Onkel Willy?

Und dann habe ich die Festbaracke verlassen und ging zwischen dem Stacheldraht und den Hütten ums Lager. Ein schöner, friedlicher Abend. Felder und Wälder verblassen im Abendnebel. Und vom viereckigen Turm der alten englischen Dorfkirche tönen noch immer die Glocken und verkünden der Menschheit den Frieden. Und dann gehe ich am Speisesaal vorbei und höre eine laute Stimme. Ja, jetzt hat die Herrschaft der Gestapo aufgehört, und die politischen Diskussionen sind frei. In der Kantine verkündet der letzte deutsche Sender aus Norwegen noch immer protzig ein Heil auf unseren toten Führer. Worte von Hamsun. Und dann das englische Programm: Militärmusik. Und draußen Flaggen und Siegesstimmung und Hass. Oh, wann kommt endlich eine bessere Welt, wird sie hieraus entstehen? Jetzt werden sie überall die Nacht durchfeiern und sich betrinken. Wer wird schon in sich gehen und sich geloben, eine bessere Welt zu bauen? Gewiss, Deutschland ist besiegt, der Krieg ist vorbei! Aber kommt jetzt wirklich Frieden? Ist der Himmel wirklich blau, oder kommen da im Osten nicht schon schwarze Wolken? Grollt es nicht schon wieder in der Ferne?“

■ Andrej Mannsdorff, geboren 1922 in Berlin, wurde mit 23 Jahren als „Halbjude“ zur Zwangsarbeit beim Bunkerbau in Frankreich deportiert. Er wurde 1944 von den Kanadiern befreit und kam als Zivilist in ein englisches Kriegsgefangenenlager. Im Oktober 1946 kam er mit dem ersten Transport britischer Kriegsgefangener nach Berlin, wo er sofort Schulhelfer an der Grundschule Schmargendorf wurde. Mannsdorff arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Lehrer. Seine Tagebucheinträge veröffentlichte sein Sohn Peter Mannsdorff (2005) in überarbeiteter Form unter dem Titel „Treibend im Strudel der Zeit“