Kranke Stadt

DER EMIGRANT Im Herbst 1947 besuchte der Schriftsteller Herbert Friedenthal nach neun Jahren seine alte Heimatstadt Berlin. Sein Text erschien erstmals vor 68 Jahren in Tel Aviv

■ geboren 1906 in Posen, begann nach dem Studium eine journalistische Karriere in Berlin, die mit der Machtübernahme der Nazis abrupt endete. Er arbeitete ab 1933 für zionistische Gruppen, die die Auswanderung nach Palästina propagierten, den Jüdischen Kulturbund und veröffentlichte erste Romane. Nach der Pogromnacht emigrierte Friedenthal 1939 nach Großbritannien, wo er seinen Namen in Freeden änderte. 1950 wanderte er nach Israel ein und arbeitete dort jahrzehntelang als Korrespondent für die Frankfurter Rundschau. Freeden starb 2003.

VON HERBERT FRIEDENTHAL

Es war Nachmittag. Das Auto brachte mich vom britischen Flugplatz Gatow zum Hotel „Am Zoo“. Die Straßen waren leer. Ein paar Militärwagen waren unterwegs. Ein paar Leute schoben ihre Karren mit gesammeltem Holz oder undefinierbaren Säcken. Eine unwirkliche Stille lag über der Stadt. Wir überholten Straßenbahnen, die Fenster mit schwarzer Pappe verkleidet wie schleichende Särge, vollgepfercht mit grauen, abgerissenen Menschen. Nach acht Jahren sah ich zum ersten Mal in die Gesichter von Deutschen. Ich glaube nicht an die Kollektivschuld eines Volkes. Aber die ich sah – waren das die Unschuldigen oder die Mörder? Hatten sie einmal die schwarze SS-Tracht getragen oder die braune SA-Uniform? Hatten die Frauen geschlagenen jüdischen Müttern die Pelze geraubt? Wie sehen die Schuldigen aus und die, die von nichts wussten? Man kann sie nicht unterscheiden. Das Misstrauen verließ mich nicht bis auf den letzten Tag.

Ich trat aus dem Hotel auf den Kurfürstendamm und ging die altbekannten Straßen entlang. Ich habe lange inmitten jener Straßen, Plätze, Häuser gelebt. Ich wusste, wo man die Juden hingezerrt hatte und wo die neuen Herren triumphierend eingezogen waren. Ich ging an jenen Häusern entlang, die nun zu tausenden das makabre Spalier ausgebrannter Ruinen boten, schritt über die Trümmer und Scherben, die seit zwei Jahren auf den Bürgersteigen liegen, durch Stadtteile, die fortgefegt waren und einst vertraute Ecken in eine Landschaft des Todes umgewandelt hatten. Zwei widerstreitende Gefühle ergriffen mich: Traurigkeit und tiefe Genugtuung.

Die Traurigkeit kam von dem Erlebnis eines Menschen, der eine Reise in seine eigene Vergangenheit macht und feststellen muss, dass jene Vergangenheit nicht mehr existiert, dass die Wirklichkeit nicht mehr mit seinen Erinnerungen übereinstimmt, dass das Gesicht jener Stadt, die er einmal geliebt hat, zu einer scheußlichen Fratze geworden ist. Wir dachten einst, dass Städte etwas Ewiges sind und Menschen vergänglich. Die wenigen Freunde, die ich in Berlin fand, hatten sich kaum verändert. Aber Berlin hatte ein Ende genommen.

Die tiefe Genugtuung kam von einer beinahe religiösen Empfindung. Wir haben lange das Vertrauen an eine irdische Gerechtigkeit verloren. Aber wie niemals zuvor empfand ich groß und gewaltig die Idee des kosmischen Ausgleichs. Als ich Berlin 1939 verließ, klirrten die Straßen wider von Tritten einer größenwahnsinnig gewordenen Soldateska. Arroganz und Hochmut waren die alltägliche Uniform; Sinnbild des bestialischen Imperiums, die stolze Ost-West-Achse, die vom Brandenburger Tor bis über den Kaiserdamm hinausführte. Die Hand des Schicksals hat jene Monumentalität gestürzt und den Hochmut auf den Gesichtern ausgelöscht, hat die Burgen der neuen Herren niedergebrochen, dass sie sich ihres erstohlenen Besitzes nicht freuen konnten. Die Zahl der Krüppel und Blinden in Berlin ist Legion.

Nicht einmal das Vogelgezwitscher im wilden Wein war geblieben. Es gibt keine Vögel in Berlin

Meinekestraße 10, das zionistische Zentrum, steht unversehrt. Aber der Hof, der sonst von dem Lärm von Schreibmaschinen widerhallte und den Stimmen geschäftiger Menschen, war still und unwirklich wie die ganze Stadt. Nicht einmal das Vogelgezwitscher im wilden Wein an der Hauswand war geblieben. Es gibt keine Vögel in Berlin. Aber unter der Stille brodelt und zischt und kocht es. Die Energien jener einst vitalsten Stadt Europas reiben sich auf in Intrige, Hass, Korruption, Verbitterung und Zynismus. In Berlin sind die Weltkonflikte wie durch ein Vergrößerungsglas riesenhaft projiziert. Auf kleinstem Raum stoßen dort vier Großmächte in täglichen Reibereien zusammen. Die deutschen Parteien, von ihnen gefördert oder verboten, zerfleischen sich in gegenseitigem Kampf. Die Presse, mit der inflationistischen Zahl von vierzehn Tageszeitungen und einem Heer von Zeitschriften, fließt über von Eifer und Geifer und reflektiert wie in einem Zerrspiegel die vierfache Zerrissenheit der Stadt, Deutschlands, der Welt. Aufbau? Wozu? Morgen wieder Krieg, ist die Parole. In jener hysterisierten Atmosphäre wachsen lokale Differenzen zu Weltkonflikten. Und Krieg scheint vielen die einzige Möglichkeit, Deutschland aus der eisernen Umklammerung jener hadernden Giganten zu befreien. Aufbau und Demokratie sind Witzworte des politischen Kabaretts, das in jedem der vier Sektoren die anderen drei ironisiert. Aufbau? Das Einzige, was gebaut wird, sind Geschäfte für Geschenkartikel, Antiquitäten und Luxuswaren. Wie grelle Farbflecke stechen jene Läden zu Dutzenden aus dem morschen Grau zerfallener Fassaden hervor. Wer in Berlin reich ist, ist sehr reich, wer arm ist, sehr arm. Die Menschen bringen ihr Porzellan, ihre Stilmöbel, Bilder und Juwelen in jene Geschäfte, in denen sich Käufer finden, die nicht nur Amerikaner sind. Sonst handelt niemand mit dem, was er vorgibt. Friseure bieten Butter an, Drogerien Kleiderstoff, Schuhmacher Kartoffeln. Kellner flüstern den Gästen die letzten Notierungen von Zigaretten und Schokolade ins Ohr.

In jenem Lande der zwei Währungen läuft die Wirtschaft Amok. Die eine Währung ist die offizielle, aber wer nicht verhungern oder erfrieren will, muss sich am Schwarzen Markt beteiligen, der die Zigarette als Valuta anerkennt. Mit Zigarettenvaluta kann man alles in Berlin kaufen – Menschen und Dinge, Lebensläufe und Karrieren. Niemand kann sich dem morbiden Rausch der Stadt entziehen; weder die Okkupationsmächte noch die deutsche Polizei; weder Christ noch Jude. Der Winter kommt – rette sich, wer kann. Keine Kohlen, keine Kartoffeln. Und was kommt nach dem Winter? Krieg? Und wer ist schuld? Die Russen oder die Amerikaner? Die Nazis oder die Juden? Die Kommunisten oder die Sozialdemokraten? Die anderen oder sie selbst? Immer die anderen. Das Bekenntnis zur eigenen Schuld ist genauso ausgeblieben wie die Umerziehung durch die Alliierten. Der Krieg hat eine neue, wenn auch unblutige Form angenommen – der Krieg aller gegen alle in einem Daseinskampf, dessen schärfte Waffe die Korruption ist.

Berlin ist eine Stadt von Ruinen, die auf verfaultem Grund stehen – angefressen von moralischer Fäulnis, die genährt wird von den Intrigen und der Skrupellosigkeit einer irrsinnigen Welt.

■ Vorabdruck aus „Fremde im neuen Land. Deutsche Juden in Palästina und ihr Blick auf Deutschland nach 1945“ von taz-Redakteur Klaus Hillenbrand. Das Buch (416 Seiten) erscheint am 21. Mai bei S. Fischer und kostet 24,99 Euro.