Dschungel der ruhelosen Seelen

LITERATUR Heute vor 40 Jahren endete der Vietnamkrieg. Bao Ninhs Roman-Meisterwerk „Die Leiden des Krieges“ erzählt schonungslos und packend von den drastischen Folgen

Bao Ninhs Roman ist auf eine Weise seelenwund, dass es einem den Atem verschlägt

VON KATHARINA BORCHARDT

Napalm vernichtete Kiens gesamtes Bataillon. Er selbst aber hatte Glück und überlebte diesen und viele andere Angriffe. Am Ende sind es zehn Jahre, die der junge Vietcong im Dschungel gelebt, gekämpft und getötet hat. In Regen und Schlamm, von Insekten und giftigen Schlangen gequält, mit viel Glücksspiel und der ständigen Angst vor dem nächsten Angriff. Noch bei der finalen Einnahme von Saigon am 1. Mai 1975 war er dabei, bevor er demobilisiert wurde und in seine Heimatstadt Hanoi zurückkehrte.

Doch in ein ziviles Leben findet er nicht zurück. Zwar trifft er seine Jugendliebe Phuong wieder, aber auch sie ist schwer kriegstraumatisiert. Die beiden lieben sich noch immer, doch gelingt es ihnen nicht mehr, einander nahezukommen. Nächtelang sitzt Kien in seinem Zimmer und brütet stumpf vor sich hin. Der Krieg in seinem Kopf geht weiter; in der „Hölle des Friedens“ suchen ihn die Erinnerungen heim und führen in ihm ein qualvolles Eigenleben. Deshalb meldet er sich zu einer Einheit, die mit einem Lastwagen durch den Dschungel fährt und die Gebeine der noch überall herumliegenden toten Soldaten einsammelt.

Dabei kommt er auch in Gegenden, in denen er selbst gekämpft und viele Kameraden verloren hat. Ihre ruhelosen Seelen irren noch heute durch den Dschungel, und sie leben auch in Kiens Kopf weiter. Männer wie Kien, weiß der Fahrer, werden „nie wieder zu normalen Menschen“. Heute würde man seine Krankheit eine posttraumatische Belastungsstörung nennen.

„Die Leiden des Krieges“ ist der vietnamesische Kriegsroman schlechthin. Er löste ein Erdbeben in der vietnamesischen Literaturszene aus, als er 1991 in Hanoi erschien. Bis dahin waren Heldengeschichten die Regel, die den vietnamesischen Befreiungskampf verherrlichten. Dass auch die eigenen Soldaten Angst hatten, vergewaltigt haben, verrückt wurden und desertiert sind, wurde kaum thematisiert. Mit der Doi-moi-Erneuerung aber öffnete sich ab 1986 nicht nur das Feld für politische und wirtschaftliche Reformen, sondern es wurde auch auf kulturellem Gebiet eine neue Art von Freiheit spürbar. Bao Ninh nutzte diese Gelegenheit und legte seinen auf eigenen Erfahrungen basierenden Roman vor. Er war selbst mehrere Jahre lang Soldat der „Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams“ gewesen, des Vietcong. In seinem Roman schildert er die verheerende Wirkung des Krieges auf den jungen Kien. Der ist ein durchaus vorbildlicher Soldat, nach Kriegsende erlebt er jedoch seine völlige seelische Zersetzung.

Verloren gegangene Ideale

Schon während des Kriegs hatte er dessen Sinn und Zweck aus den Augen verloren, doch die „Leiden des Krieges“ bekommen ihn erst im nachfolgenden Frieden so richtig zu packen. Außerdem erfährt Kien eine vietnamesische Nachkriegsgesellschaft, die eine sozialistische sein will und die doch all ihrer Ideale verlustig gegangen ist.

Bao Ninhs Roman ist auf eine Weise seelenwund, dass es einem den Atem verschlägt. Kein Wunder also, dass der Roman in englischer Übersetzung auch von US-Vietnamkriegsveteranen viel gelesen wurde. Sie fanden in ihm ihre eigenen Erfahrungen gespiegelt, erklärt Günter Giesenfeld in seinem klugen Nachwort.

Wie es in den USA zahllose Vietnamveteranen der US-Army gab, die nach ihrer Heimkehr traumatisiert durchs Land streunten, so ergeht es Kien ganz ähnlich. Der Ex-Vietcong verliert sich immer mehr an Alkohol und düstere Gedanken, vor allem seit seine Freundin Phuong mit einem anderen Mann fortgegangen ist. Nachts versucht er, seine Erfahrungen zu Papier zu bringen und so zu bannen.

Teile des vorliegenden Romans scheinen genau dieser Text zu sein, während andere Teile eher einem Tagebuch gleichen. Gelegentlich schiebt sich Kiens Ich-Perspektive in die ansonsten von einem allwissenden Erzähler geschilderten Passagen, wie auch die Vergangenheit in Form von Erinnerungen und Albträumen in die Gegenwart eindringt und diese oft sogar völlig überlagert. Besonders traumatische Erinnerungen blitzen in fast expressionistischen Bildern auf, während manche Sätze zu Ein-Wort-Ausrufen schrumpfen.

Mit dieser komplexen, flirrenden Stilistik hat Bao Ninh eine vollkommene Form für Kiens Geschichte gefunden. Die Gegenwart hat für diesen zutiefst Traumatisierten an Bedeutung verloren, denn „die Leiden des Krieges sind Tag für Tag deutlicher zu spüren, und es wird keinen Trost geben“. Diesem schließlich alles verschlingenden Leid hat Bao Ninh auf so erschütternde Weise Ausdruck verliehen, dass sein Roman nur ein Meisterwerk genannt werden kann.

■ Bao Ninh: „Die Leiden des Krieges“. Aus dem Vietnamesischen von Günter Giesenfeld, Marianne Ngo und Nguyen Ngoc Tan. Mit Illustrationen von Hartmut Stabe. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014. 320 Seiten, 24,95 Euro