HUNDEFLÜSTERER, PORSCHEFAHRER UND ANDERE SONDERBARE EINZELFÄLLE
: Willkommen in der Klischeefalle

VON MIGUEL SZYMANSKI

Mit Klischees ist es so eine Sache. Wenn ein Beobachter seine Wahrnehmung der deutschen Realität verbreitet – sagen wir in einer hypothetischen Kolumne –, sieht er sich ganz schnell mit dem Vorwurf konfrontiert, seine Sichtweise sei von Klischees verzerrt. Ebenso fix wird ihm vorgeworfen, die kritischen Beobachtungen seien kasuistisch und, weil ja nur Einzelbeobachtungen, wenig oder nichts sagend. Irgendwie verwirrend: Klischees versus Kasuistik. Scheinbar Gegensätze, aber kaffeehausphilosophisch und kolumnistisch durchaus vereinbar.

Kasuistik: Mein Nachbar hängt an seinen Gartenzaun eine sauber laminierte DIN-A4-Seite, auf der man liest, Tierhalter sollen auf dem Gehweg vor seinem Haus die „Extremitäten Ihrer Hunde gefälligst einsammeln“. Ein grauenhaftes Bild, das lediglich kasuistisch die Vermutung nährt, Deutsche hätten es nicht so mit Fremdwörtern. Oder doch eher ein Klischee, wenn am selben Tag auch ein Radiosprecher als Suppeneinlage kleine, geröstete Brotstücke empfiehlt, die er so beharrlich „crétins“ ausspricht, dass ich mich aus dem kulinarischen „Konzert“ (klingt irgendwie harmonischer als Konzept) gerissen fühle.

Kasuistik: Ein Mann läuft mit seinem Hund an mir vorbei, pädagogisch so auf die Erziehung des Tieres konzentriert, als würde der Hund eines Tages eigenbeinig die Rente seines Herrchens sichern.

Eine der Hauptbeschäftigungen kinderloser deutscher MitbürgerInnen mittleren Alters, also der Mehrheit der Bevölkerung, ist es, Hunden anständige Manieren beizubringen. Ein Klischee? Im Süden bellen Hunde, wenn man an den Häusern entlangläuft, sie laufen Fahrradfahrern und Autos hinterher.

Kasuistik: Ein mexikanischer Hundetrainer – ich lese es an Litfasssäulen in der Stadt –, wird dieses Jahr wieder durch Deutschland touren. Es ist die „Leader of the pack“-Tour, also Mann mit Meute (als Nachmittagsveranstaltung eine zeitgeistgemäße Nachfolge der Kelly Family). Der Hundeflüsterer tritt in der Festhalle in Frankfurt, Olympiahalle in München und Porsche Arena in Stuttgart auf. Apropos Porsche: Deutsche und ihre Autos, aber lassen wir das.

Wer nach Klischees greift, scheut meistens die Detailarbeit und greift deswegen nach Schablonen. Aber jemand muss die Detailarbeit vorher gemacht haben. Wenn die Beobachtungen vieler Einzelfälle auf ein Muster schließen lassen und dieses Muster sich mit einem Klischee deckt, muss weder die Summe der Einzelbeobachtungen noch die zum Abklatsch oder Klischee verkommene Erkenntnis falsch sein. Das trifft für echte Hunde zu aber auch für andere Kapitalisten.

Kasuistik: Ich habe in einem Unternehmen in Deutschland gearbeitet, in dem der gelbe Schaumstoff aus den alten Stühlen herausquoll, wenn ich mich hinsetzte und ein Viertel meiner Arbeitskollegen warf, von der Arbeitslast erdrückt, innerhalb eines Jahres das Handtuch. Komparative Kasuistik: In Portugal habe ich sieben Jahre lang in einem Verlag unter ähnlichen Bedingungen gearbeitet.

Jetzt die Detailarbeit hinter den Gemeinsamkeiten zwischen deutschen und südländischen Kapitalisten, um soeben noch die Kurve zum Klischee zu kriegen: Im Süden gaben meine Chefs den ganzen Gewinn des Verlags für teure Sportwagen aus (allen voran Porsches).

Der deutsche Kapitalist dagegen spart eisern seinen den Arbeitsbedingungen abgepressten Gewinn. Eines Tages erzählte mir der deutsche Unternehmer stolz, er habe „viele Millionen auf der hohen Kante“. Nun das Klischee beider Kasus: Deutsche geben ihr Geld nicht aus und sparen sich und andere kaputt, Südländer dagegen kauften deutsche Luxusgüter und verprassten den Rest. Die „big data“ der Wirtschaftsdaten über extreme Handelsüberschüsse auf der einen Seite und Defizite auf der anderen bestätigen leider das Klischee und die vielen Einzelbeobachtungen. In Deutschland wächst die sterile Geldmenge, der Süden geht vor die Hunde.