„Absurd, dass Migranten andere ausgrenzen“

In der türkisch-arabischen Community Berlins ist Antisemitismus weit verbreitet, sagt Deniz Yücel. Er hat deshalb die „Migrantische Initiative gegen Antisemitismus“ mit initiiert, die gestern Abend der Opfer von Istanbul gedenken wollte

taz: Herr Yücel, Sie haben gestern Abend die Gedenkveranstaltung für die Opfer der Anschläge von Istanbul mit organisiert. Was hat Sie dazu bewogen?

Deniz Yücel: Zum einen hatten wir das Gefühl, unseren Abscheu und unsere Wut über die mörderischen Anschläge von Istanbul zum Ausdruck bringen zu müssen. Zudem wollen wir den Jüdischen Gemeinden symbolisch auch ein Stück weit das zurückgeben, was wir Anfang der 90er an Solidarität erfahren haben, als etwa in Rostock die Asylbewerberheime angezündet wurden.

Wie verbreitet ist Antisemitismus in der türkisch-arabischen Community in Berlin?

Quantitativ kann ich das nicht sagen. Aber wir stellen seit längerem fest, dass sich islamistisches und antisemistisches Gedankengut auch unter Einwanderern verbreitet. Auch bei Migranten ohne explizit islamistischen Hintergrund trifft man sehr häufig die Vorstellung, „das Weltjudentum“ sei für alles Übel in der Welt verantwortlich. Diese Tendenz gibt es seit geraumer Zeit in vielen Vierteln Berlins, die damit für jüdische Mitbürger gefährlich werden.

In Vierteln wie Neukölln oder Wedding sollten sich jüdische Mitbürger also nicht als solche zu erkennen geben?

Ja. Ich würde davon abraten. Das Absurde ist: Wir sind selbst Menschen, die Erfahrung mit Ausgrenzung und Diskriminierung haben. Dass es aber an Orten wie etwa Kreuzberg, die eigentlich Schutz vor Ausgrenzung bieten, gleichzeitig für jüdische Menschen unsicher ist, das ist ein skandalöser Zustand.

Hat es mit mangelnder Integration zu tun, dass sich solche Strömungen entwickeln?

Ich denke schon. Das hat mit Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit zu tun. Islamisten bieten da einen positiven Gegenentwurf. Es ist sehr einfach, sich die eigene Benachteiligung mit einer jüdischen Weltverschwörung zu erklären.

Hat diese Entwicklung auch etwas mit falsch verstandener Toleranz zu tun?

Bei Teilen der deutschen Linken herrscht eine merkwürdige Vorstellung von Antirassismus. Man toleriert Islamismus und Antisemitismus als Teil der kulturellen Identität. Dazu kommt, dass ein Teil des linken Milieus vor Antisemitismus alles andere als gefeit ist. Natürlich nicht in der Form des klassischen Antisemitismus, aber in der Form des so genannten Antizionismus.

Warum gab es bisher so wenige Stimmen aus dem türkisch-arabischen Milieu, die sich deutlich gegen Antisemitismus ausgesprochen haben?

Es gibt sicher eine gewisse Scheu, sich deutlich dazu zu bekennen. Man riskiert damit persönliche Zerwürfnisse oder befürchtet, den falschen Leuten in die Hände zu spielen. Das führt dazu, dass gefährliche Entwicklungen innerhalb des eigenen Milieus so lange totgeschwiegen werden, bis es nicht mehr geht.

INTERVIEW: SUSANNE AMANN

Fotohinweis: DENIZ YÜCEL, 30 Jahre alt und türkischer Herkunft, lebt und arbeitet als Journalist in Berlin