Einig in Schock und Trauer

Einen Tag nach den Anschlägen in Istanbul herrscht weiter viel Angst und Entsetzen in der Hauptstadt. Muslime und Juden gedenken gemeinsam der Toten. Polizei verstärkt den Schutz der Botschaften

von JOHANNES GERNERT

Die Anschläge von Istanbul bestimmten auch gestern noch Bild und Stimmung der Stadt. Dabei zeigten sich bei öffentlichen Veranstaltungen alle einig: Es geht längst nicht mehr um Religion. Ob Christen, Juden oder Muslime, jeder sei Ziel des Terrors. „Wir sind es alle“ – dies zu betonen, versäumte keiner der Redner etwa bei der ökumenischen Gedenkveranstaltung für die Opfer der Attentate. Neben Gesandten der israelischen, britischen und türkischen Botschaft waren auch Vertreter der Jüdischen Gemeinde, des Zentralrats der Juden und der Türkischen Gemeinde ins Centrum Judaicum gekommen.

Doch trotz verbindender Trauer: Gerade auf jüdisch-israelischer und auf muslimisch-türkischer Seite unterschieden sich die Interpretationen. Muhsin Kilicaslan, Botschaftsrat der Türkei, wies darauf hin, dass zu den Opfern zahlreiche Muslime zählten. Seit über 500 Jahren seien türkische Juden zudem „unsere Landsleute, unsere Menschen“. Er forderte, die Terrorakte nicht dem Islam zuzuschreiben.

Der Gesandte der israelischen Botschaft, Mordechay Lewy, dagegen postulierte den offenen Kampf der Kulturen. „Wer heute glaubt, dass es sich nicht um einen Zivilisationskrieg handelt“, werde das vielleicht teuer bezahlen, prohezeite er. „Die Zeit der europäischen und besonders der deutschen Appeasement-Politik muss endlich vorbei sein“, kritisierte auch Stephan Kramer, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, den Kurs der Bundesregierung. Unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit dürfe die Menschenwürde nicht mit Füßen getreten werden, sagte er mit Blick auf die heutige „Al Quds“-Demonstration in Berlin, zu der 1.500 Teilnehmer erwartet werden. Im Vorjahr hatte bei einer „Al Quds“-Demo ein Vater seiner Tochter eine Sprengstoffattrappe umgebunden. „Die Dschihad-Extremisten rücken nach Europa vor“, warnte Kramer.

Die Polizei zog unterdessen Konsequenzen: Sie verstärkte die Sicherheitsvorkehrungen sowohl am türkischen Generalkonsulat als auch an der britischen Botschaft mit zusätzlichen Beamten und erweiterten Absperrungen. Mit der Jüdischen Gemeinde wurde ein Sicherheitskonzept erarbeitet, nicht zuletzt für die „Lange Nacht der Synagogen“ am Samstag.

Auch über die Sicherheit auf Weihnachtsmärkten wird diskutiert. Die Menschen dort zu schützen sei „sehr schwierig“, sagte Hanns Peter Nerger, der Geschäftsführer der Berliner Tourismus Marketing GmbH. Er befürchtet eine Verunsicherung deutscher Touristen durch die Anschläge von Istanbul.

Um Destabilisierung und Verunsicherung entgegenzuwirken, müsse die Türkei weiter an die EU herangeführt werden, sagte Kenan Kolat, der stellvertretende Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland. „Demokraten aller Länder, vereinigt euch – gegen den Terrorismus“, rief er ins Centrum Judaicum. Dafür gab es erstmals Applaus. Religionsübergreifend.