Anders als im wirklichen Leben

IM STEINBRUCH Michael Glawoggers neuer Film „Das Vaterspiel“

Im Keller eines unauffälligen Hauses auf Long Island lebt seit 30 Jahren ein Mörder

VON DIETMAR KAMMERER

Wollte man in einem Kinofilm all die Themen unterbringen, die in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion für relevant erachtet werden, wären folgende Sujets unabdingbar: Gewaltverherrlichung in Computerspielen, insbesondere bei Ego-Shootern. Vater-Sohn-Konflikte damals und heute. Das unaufgearbeitete und totgeschwiegene Erbe des Nationalsozialismus. Der Niedergang der Parteien und die Korruption der politischen Klasse. Die Lethargie der sich in Selbstmitleid vergrabenden 68er-Generation. Das Warten hat ein Ende: Michael Glawogger hat diesen Spielfilm gemacht.

Rupert Kramer, genannt „Ratz“ (Helmut Köpping), Sohn eines österreichischen Ministers, hat es mit 35 Jahren zu wenig mehr gebracht als zu einer gründlich gepflegten Verachtung für seinen Vater. Seit Jahren programmiert Ratz ein „Vatervernichtungsspiel“, einen Ego-Shooter, dessen Inhalt er so umschreibt: „Es geht dabei um den gepflegten, fantasievollen Mord an einer Einzelperson, die man hasst.“ Jeder Spieler kann das Gesicht einer Person seiner Wahl einsetzen. Für Ratz fällt diese Wahl nicht schwer. Freilich hat das Spiel einen Haken: Der Vater kommt immer wieder, und zwar in Horden. Im virtuellen Gameplay gibt es immer einen zweiten, dritten, hundertsten Gegner. Man kann dort weder wirklich töten noch wirklich sterben.

Anders als im wirklichen Leben. In einem nüchternen Büro vor einem Tonband sitzt Jonas Shtrom (Ulrich Tukur), ein anderer Sohn, der mit seinem Vater ins Reine zu kommen versucht. Der war ein litauischer Jude und wurde während der Zeit der NS-Besatzung umgebracht. Jetzt sucht der Sohn die Schuldigen, aber auch die Antwort auf eine Frage: Warum habe ich damals, als mein Vater totgeprügelt wurde, nichts unternommen? Und im Keller eines unauffälligen Hauses inmitten einer durchschnittlichen Nachbarschaft auf Long Island lebt seit 30 Jahren ein Kriegsverbrecher und Mörder, versteckt vor den Augen der Welt und derer, die ihn zur Rechenschaft ziehen wollen.

Als Dokumentarist schildert Michael Glawogger unerbittlich die erhebenden wie die abgründigen Seiten des menschlichen Lebens. In „Workingman’s Death“ schaute er sich die Arbeitsbedingungen in einer globalisierten Welt an. In „Megacities“ porträtierte er die Unterseite des Lebens in Städten, die so groß geworden sind, dass die Einwohner nicht mehr aus ihnen herauszufinden scheinen. Was an diesen Filmen fantastisch oder unfassbar erscheint, ist Glawoggers Credo des Hinsehens zu verdanken. Auch in „Das Vaterspiel“ nach dem gleichnamigen Roman von Josef Haslinger bedroht und durchbricht das Surreale eine prosaischere Wirklichkeit. Was zur Folge hat, dass weder das eine noch das andere irgendeine Rolle zu spielen scheint.

Der Film springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Themen, Orten und Erzählsträngen hin und her, sodass man den Eindruck nicht loswird, der Regisseur habe den Roman nicht als Vorlage, sondern vielmehr als Steinbruch benutzt, der nur dadurch einen Zusammenhang bewahrt, dass über allem die immer gleiche sinfonische Musik schwebt.

„Das Vaterspiel“. Regie: Michael Glawogger. Mit Helmut Köpping, Sabine Timoteo, Ulrich Tukur u. a. Deutschland/Österreich/Frankreich 2008, 117 Min.