Die Perlentaucher

LIEBE, SEHNSUCHT, MORD Das Arsenal-Kino präsentiert ab heute eine sehenswerte Filmretrospektive mexikanischer Melodramen

VON EKKEHARD KNÖRER

Die vielleicht eindrucksvollste Sequenz von Emilio Fernández Film „Salón México“, der heute im Arsenal eine Reihe mexikanischer Melodramen vornehmlich der Vierziger Jahre eröffnet, zeigt keine Menschen. Zwei Schwestern besuchen das Nationalmuseum in Mexico-Stadt, aber sie verschwinden schnell aus dem Bild. In einer Folge statischer Einstellungen sieht man in Großaufnahmen massive Skulpturen indigener mexikanischer Kunst. In mehr als einer Hinsicht ist Regisseur Fernández, der, selbst halb indigen, den Beinamen „El Indio“ mit Stolz trug, hier ganz bei sich. Einerseits ist die Kultivierung des mexikanischen Erbes ein wichtiges Moment seiner Filme und typisch für die Bewegung, deren wichtigste Beispiele die Melodramen-Serie im Arsenal zeigt. Zum anderen aber gehört es zur Signatur dieses Regisseurs, seine Figuren immer wieder, oft auch in geradezu expressionistisch gewagten Kompositionen, statisch bis monumental in den Raum zu stellen.

Hohe Wellen, stille Figuren

Etwa zu Beginn von „La perla“, der Verfilmung des Romans von John Steinbeck. Erzählt wird die Geschichte eines indigenen Perlentauchers und seiner Familie, die nach dem Fund einer großen Perle in einer Auster der erstickenden Armut im Indio-Dorf zu entkommen hofft. Fernández montiert in der Eingangssequenz Strand und Meer gegeneinander. Hohe Wellen einerseits und andererseits Frauen am Strand, die er in gestaffelter Totalen-Komposition filmt. Erst eine, dann zwei, dann immer mehr: eine kunstvolle Parallelmontage aus bewegtem Meer und stillstehenden Figuren. Diese ikonischen Kompositionen trugen viel zum rasch wachsenden internationalen Ruhm von Fernández bei. Man lud seine Filme nach Cannes ein, „La perla“ war dann sogar eine amerikanisch-mexikanische Koproduktion und ist seit 2002 Teil des offiziellen amerikanischen Filmerbes.

Ein anderes Element, als Gegenzug zum tendenziell Monumentalen, ist das Festliche. Grandios sind die Feuerwerke, Lichträder, sind Tanz und Musik in „La perla“. Auch in „Salón México“ wird viel getanzt, allerdings zwielichtiger. Im titelgebenden Nachtclub arbeitet Mercedes, die Heldin des Films. Sie bietet Tanz (und einiges mehr) gegen Geld, das sie braucht, um ihrer jüngeren Schwester die Schulerziehung zu ermöglichen. Die Geschichte ist eher simpel moralisch gestrickt. Mercedes gerät in ihrer Geldnot zwischen zwei gegensätzliche Männer, während ihre jüngere Schwester, die von der Aufopferung der Schwester nichts ahnt, einem soeben zurückgekehrten mexikanischen Kriegshelden in die Arme stolpert. „Salón México“ fällt als urbanes Melodram mit starkem Noir-Einfluss ein wenig aus dem Rahmen, da Fernández sonst ländliche Settings bevorzugt. Visuell ist der Film großartig, auf Augenhöhe mit den düsteren unter den Hollywood-Melodramen seiner Zeit.

Auf andere und sehr eigene Weise faszinierend ist „Distinto Amanecer“ („Eine andere Morgendämmerung“, 1949). Regisseur Julio Bracho verfilmte dabei ein Theaterstück des kommunistischen spanischen Autors deutscher Herkunft Max Aub. Der war ein enger Freundes von André Malraux, André Gide und anderen, entkam Anfang der Vierziger mit knapper Not aus dem faschistischen Europa ins mexikanische Exil und blieb dann. Aubs Hintergrund ist im Film mit Verweisen auf Gewerkschaften, Streik, kommunistischen Widerstand einerseits sehr präsent. Andererseits fügen sich diese Elemente mit den Kriminalgenre- und Melodram-Versatzstücken nie zu einem einheitlichen Ganzen.

Im Körperversteck

Eine Frau, die mit einem bettelarmen Schriftsteller lebt, begegnet einem gemeinsamen Studienfreund, der jetzt für die Gewerkschaft agitiert, wieder. Politik und Liebe stehen einander aus Plotgesichtspunkten sinnlos aufwändig, aber stets reizvoll im Weg. Dazwischen kursiert ein hochwichtiger Brief durch die Hände und durch Körperverstecke fast aller Beteiligten. Zentraler Schauplatz ist eine verschachtelte Wohnung mit vielen Türen und Durch- und Ausgängen, durch die immerzu einer kommt, der nicht reingehört. „Distinto Amanecer“ ist die Sorte Film, bei dem die Teile toller sind als das Ganze; eine Art Meta-Melodram, das sich in pathetische Szenen, groß buchstabierte Dialoge und aufregend gefilmte Einstellungen (mit Liebe, Sehnsucht, Mord) auflöst. Kurzum: Eine auf ihre grandios seltsame Art ziemlich unvergessliche „Casablanca“-Variation.

Programm unter www.arsenal-berlin.de