Auf Platte

HIGH FIDELITY Der Schallplattenmarkt boomt, doch die Plattenläden haben es schwer. Wer deswegen allerdings von einer Krise der Musikindustrie redet, hat nichts verstanden ➤ Schwerpunkt SEITE 43–45

Wer Musik haben möchte, geht heute ins Internet – über 13 Millionen unterschiedliche Musikstücke stehen auf knapp 500 registrierten Portalen zum Download zur Verfügung. Und die Konsumenten freuen sich über die Auswahl. Für die meisten jedenfalls scheint der Weg nicht mehr in ein so genanntes Fachgeschäft zu führen. Dass neben Soho in London das Hamburger Schanzenviertel noch um die Jahrtausendwende zu den Stadtquartieren mit der weltweit höchsten Plattenladendichte zählte, mag man heute kaum noch glauben. Die legendären Läden sind verschwunden oder machen ihr Geschäft online.

Als 2003 der im Souterrain im Grindelviertel gelegene Unterm Durchschnitt seine Kellerpforte schloss, bedeutete das eine Zäsur: Seit 1981 war dieser Raum für Pop- und Punksozialisation in Hamburg ein Initiationsort, eine Kultstätte. Trotzdem haben auch einige Läden aus dem letzten Jahrhundert, dem Jahrhundert der Schallplatte, überlebt: Läden wie Ruff Trade Records, Rekord, Groove City; dass allerdings Geschäfte wie Michelle oder Zardoz früher – mitunter mehrere – größere Filialen hatten, gehört ebenso zur Vergangenheit wie die einst zahlreichen Second-Hand-Plattenläden, die sich verstreut über das Hamburger Stadtgebiet fanden. Übrig geblieben sind kleine, enge Räume, Läden, die ihr Hauptgeschäft ebenfalls weitgehend auf das Internet zu verlagern gezwungen sind, um rentabel zu bleiben. Mieten sind teuer. Und Schallplatten brauchen Platz, vor allem viele Schallplatten, die gute Auswahl, auch an Raritäten, die über Jahre erst einmal herumstehen, bevor sie verkauft werden.

Wenn sich so feine Geschäfte wie Smallville, Minigroove, Otaku oder Hanseplatte etablieren konnten, ist das, so die landläufige Annahme, der vitalen Vielfalt so genannter Subkulturen in Hamburg zu verdanken – und zwar gerade deshalb, so ist hinzuzusetzen, weil mittlerweile der Musikmarkt ökonomisch wie sozial – auch über die Grenzen der „Medienstadt“ und „Kulturmetropole“ Hamburg hinaus – derart expandierte, dass „Subkultur“ und musikalische Besonderheiten wirksame Reklameetiketten sind, mit denen die Allgemeinkultur und der gewöhnliche Geschmack heute ausstaffiert werden. Darauf haben mittlerweile ja auch Elektrogroßmärkte wie Saturn oder Media Markt reagiert, wenn sie seit einigen Jahren wieder Schallplatten im Angebot haben (genauso wie originäre Schallplattenläden Musikelektronik, Software und Hardware, Instrumente, DJ-Equipment oder natürlich Fan-Utensilien und Accessoires verkaufen).

Überhaupt und paradox: der Markt an sich boomt, im vergangenen Jahr wurden weltweit so viele Schallplatten verkauft wie noch nie! Wenn doch einige Plattenläden verschwunden sind und sich die übrig gebliebenen nur in finanziell prekärer Position halten können, hat das zweifellos mit der ökonomischen Konjunktur der Tonträgerindustrie insgesamt zu tun. So verwundert es nicht, wenn der Aufstieg und Fall der Schallplatte gemeinhin unter dem Gesichtspunkt technologischer Entwicklungen erklärt wird, die sich von Emil Berliners Grammophon bis zum Datenstream via Smartphone-App als Wandel vom Analogen zum Digitalen darstellen; die Musik auf den Schellack- und Polyvinylchlorid-Schreiben habe sich, zuletzt noch in einer sechs Kilometer langen Spiralspur ins Polycarbonat der CD eingebrannt, vollends in Nullen und Einsen aufgelöst, wie allenthalben sei’s technoeuphorisch, sei’s kulturpessimistisch postuliert wird.

Allerdings wird niemand bestreiten, dass der Wandel vom Analogen zum Digitalen weit mehr als nur Veränderungen in technischen Verfahren markiert; die technologischen Entwicklungen, die mit „analog“ und „digital“ assoziiert werden, können von den gesellschaftlichen Transformationsprozessen des Kapitalismus nicht getrennt werden. Und diese sind wiederum buchstäblich rückgekoppelt mit Veränderungen der Hörgewohnheiten wie überhaupt der gesellschaftlichen Funktion der Musik, den individuellen und kollektiven – und überdies keineswegs nur ästhetischen – Ansprüchen, die an sie gestellt werden.

Die bei den sich am Qualitätsstandard „High Fidelity“ orientierenden Musikliebhabern gerne geführte Debatte darüber, ob die Digitalisierung von Musik in jeder Hinsicht einen Klangqualitätsverlust bedeute oder nicht, erweist sich dabei als eine Art sozialtechnologisches Hintergrundrauschen des vollends in der Kulturindustrie aufgegangenen Musikbetriebs. Gerade im Bereich der Musik ist plausibel nachzuvollziehen, inwieweit das Digitale – als zunächst bloß technisches Prinzip – in die Gesellschaft eingedrungen ist.

Dass analog „besser“ klinge als digital, ist Ideologie. Nicht dass es nicht Leute geben mag, die ohne großen Aufwand technisch eine Analogaufnahme von einer Digitalaufnahme unterscheiden könnten – mit dem ästhetischen Gehalt hat das freilich noch lange nichts zu tun. Die Unterschiede zwischen analog und digital bleiben indifferent, seitdem die technische Form der Musik mit ihrer ästhetischen Form amalgamierte: Ideologie sind die Unterschiede in der Qualität der Musikaufnahme, weil sie isoliert am Technischen als Wert an sich festgemacht sind und ausgespart lassen, dass Musik insgesamt ein soziales Verhältnis ist.

Technik ist Fetisch, so wie die Musik

Zwar scheint der Musikliebhaber, der sich geschmäcklerisch auf irgendwelche Hi-Fi-Standards kapriziert, einen Hörertypus zu repräsentieren, der noch nicht der, wie Adorno es 1938 im Rahmen seiner amerikanischen Radio-Forschung bezeichnete, „Regression des Hörens“ unterliegt: er wähnt sich akustisch geschult, glaubt ein gutes Ohr für Details zu haben, wonach er die Musik nach „gut“ oder „schlecht“ technisch klassifiziert; doch der Schein trügt: gerade die Entwicklung der musikalischen Produktions- wie Reproduktionstechniken sind unmittelbar mit der ökonomischen Logik verknüpft, analoge ebenso wie digitale Verfahren sind an die Anforderungen des Marktes gebunden und nur über den Markt vermittelt als ästhetische Komponenten in die Musik eingegangen – ganz gleich, ob es eine Einspielung sämtlicher Beethovensinfonien mit Originalinstrumenten ist, Pink Floyds „Dark Side of the Moon“ als Bootleg, eine Platte von Crass, die Deluxe Edition des aktuellen Madonna-Albums oder „Relayer“ von Yes in neuer, digitaler Abmischung. Technik selbst ist ein Fetisch, der mit dem Fetischcharakter der Ware Musik korrespondiert.

Die Krise gibt es nicht

Manche deuten das Vordringen des Digitalen, allgemein die Digitalisierung der Musik, als Ausdruck der Krise der Branche. Doch dass heutzutage Musik hauptsächlich in digitalen Formaten, sei’s als Audiodatei, sei’s als Stream über eine Online-Plattform, verkauft oder zumindest irgendwie verteilt und dann schließlich konsumiert wird, ist mitnichten eine Ursache und auch keineswegs ein Symptom einer vermeintlichen Krise der Musikindustrie. Überhaupt: diese in den letzten Jahren immer wieder und gerne beschworene Krise gibt es nicht.

Unbestreitbar ist der Kapitalismus an und für sich ist in der Krise; freilich hat das auch Auswirkungen auf seine Schlüsselindustrien, ergo auch auf die Kulturindustrie. Sicher ist ebenso evident, dass die ökonomische Krise in verschiedener, zum Teil auch höchst widersprüchlicher Weise ihren gesellschaftlichen Ausdruckszusammenhang hat, etwa – formiert in dem, was noch immer „Kultur“ genannt wird – als Sinnkrise. Zweifellos ist diese Krise wiederum mit der ökonomischen Krise verkoppelt.

Besser dran als die Stahl- oder Chemieindustrie

Unter Bedingungen globaler Profitwirtschaft hängt an solchen Krisenphänomenen auch der gesamte Bereich, der in der Werbefachsprache als Konsumentenbindung bezeichnet wird. Seit ihren Anfängen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat dabei nun die Kulturindustrie immer bessere Lösungen zur Überwindung von Konjunktureinbrüchen parat gehabt als beispielsweise die Chemie- oder Stahlindustrie: weil ihre Waren mit der Reklame für die Welt, wie sie ist, immanent verknüpft sind. Bei Produkten wie einem Kleinwagen oder einem Shampoo gelingt das nur vermittelt über eben die Kulturindustrie.

Seit Erfindung der Schallplatte, besser: seit ihrer Markteinführung, also seit den ökonomisch vermittelten Möglichkeiten, Musik kraft technischer Reproduktionsverfahren als Gegenstand greifbar und damit unmittelbar praktisch hörbar zu machen, ist das bei einer Musikware, einem Song, einem Track oder einer Sinfonie etwas anderes als bei Auto oder Shampoo. Denn alle hierfür zur Produktion wie Konsumtion notwendigen und hinreichenden dispositiven und apparativen Teilmedialitäten – Aufnahmegerät, Tonstudio, Plattenpressmaschine, MP3-Konvertierungssoftware, Abspielgerät, aber auch Werbung, Cover, schließlich Konzert oder eben auch Schallplattenladen – sind bereits strukturelle Elemente von diesem Song, diesem Track oder dieser Sinfonie; wodurch übrigens schlussendlich auch technisch die Unterschiede zwischen Song, Track, Sinfonie etc. nivelliert werden. Und das charakterisiert die Kulturindustrie als „System“, wie es Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ bemerkten.

Übrigens: Die „Dialektik der Aufklärung“ erschien 1947, im selben Jahr verwendete in einer Collage der britische Künstler Eduardo Paolozzi das erste Mal das Wörtchen „Pop“. Ein Jahr später, 1948, brachte Columbia Records die Langspielplatte heraus (12 Zoll Durchmesser, 33 1/3 Umdrehungen in der Minute), 1949 folgte von RCA Victor die Single-Schallplatte (7 Zoll, 45 Umdrehungen). Damit geht einher – und der Unternehmensname Columbia deutet es an –, dass die Filmindustrie sich jetzt als Musikindustrie erweitert. Die Albumcharts, die ab Mitte der 1950er-Jahre erfasst werden, führen in den ersten Jahren nicht von ungefähr von Film-Soundtrack-LPs – „The Sound of Music“, „The King and I“ – an, bis Cliff Richard, Elvis Presley oder schließlich The Beatles die Nr.-1-Plätze belegen.

Schellacks aus der Apotheke

Wenn es denn stimmt, wie gegenwärtig beklagt wird, dass immer weniger Tonträger verkauft werden, so hat das sicherlich für Firmen, die nichts weiter sind als Plattenlabels, desolate Konsequenzen. Die Musikindustrie an sich bleibt davon aber erst einmal verschont. Zumal ja eigentlich fraglich ist, ob es überhaupt noch die Musikindustrie gibt.

Was landläufig so genannt wird, „Musikindustrie“, ist je schon ein Derivat von anderen Unternehmen gewesen; den Marktgesetzen und der Profitlogik folgend, hat es dabei immer wieder Branchenverschiebungen gegeben, die es heute auch gibt: Ganz am Anfang wurden die Schellacks in Apotheken verkauft; und so wie mit den Verkaufserfolgen der Langspielplatte in den 1950er-Jahren sich die großen Filmstudios in der Musikbranche engagierten, oder so wie sich mit der Einführung der CD Anfang der 1980er auch Elektronikkonzerne wie Sony am Markt etablierten, sind es heute Unternehmen wie Apple oder Amazon, die die Musikbranche bestimmen. Und gerade weil „die Musik“ heute so omnipräsent ist, kann schon längst nicht mehr in der allgemeinen kulturindustriellen Durchdringung des Alltags von einer separaten „Musikindustrie“ oder „Musikbranche“ gesprochen werden.

In der ökonomischen Verwertungskette der Kulturindustrie, die – wie andere Branchen auch – von Innovationsdruck und Konkurrenzprinzip bestimmt ist, ist die Schallplatte nur eine Spielmarke, austauschbar wie alle anderen Medien auch: Kassette, Tonband, Festivals, das Radio und seine Formate bzw. Programmsparten etc. Spezialisierte Fachgeschäfte wie Schallplattenläden bilden unweigerlich Nischen – es sind analoge Nischen in der digitalen Welt, nicht nur wegen des Vinyls, sondern weil man wie in kaum einen anderen Geschäft sonst die Ware anfassen kann, testen kann, probieren kann, vorhören kann; dazu immer ein nettes Gespräch, eine gute Expertise, fulminante Tipps und gelegentlich einen Kaffee oder so; und alles ohne irgendwo zu klicken oder zu wischen, alles ohne App und ohne Account. Und natürlich gibt’s in Schallplattenläden auch digitale Musik.  ROGER BEHRENS