Die Listen der Vernunft

PORTRÄT Der Dramatiker Wolfram Lotz stellt die Erzählbarkeit der Wirklichkeit in Frage – so gut, dass nun über ihn erzählt werden muss. Sein Stück „Die lächerliche Finsternis“ ist eingeladen zum Theatertreffen und nominiert für den Mülheimer Dramatikerpreis

Lotz’ Stücke changieren zwischen Witz und Sentimentalität, Empörung und Ironie, Realität und Fantasie

VON LUISE CHECCHIN

Ein kleiner schwarzer Kaffee, ein Mineralwasser, eine spanische Wurst mit Zwiebeln und Kartoffelbrei, eine Neuenspringer Cola 0,3 l. So sieht die Liste der Bestellungen des Dramatikers Wolfram Lotz an diesem Mittag im Café des Leipziger Schauspielhauses aus.

Wolfram Lotz ist ein passionierter Listenschreiber. Nur, dass die Lotz’schen Listen um einiges poetischer und witziger sind, als das Listen gemeinhin an sich haben. Listen durchziehen seine Stücke, und Lotz – eigentlich fing er zunächst an, Gedichte zu schreiben – verfasst sie einfach so, zwischendurch. „Lyrische Listen“ nennt er das dann. Mit Listen, findet Lotz, lassen sich Ordnungssysteme gut hinterfragen: man listet auf nach einem Kriterium, und jede Abweichung davon führt zwangsläufig zu einer Irritation. Eine Liste ist das Gegenteil einer geschlossenen Erzählung. Aufzählen statt erzählen, das findet Lotz interessant. Denn Wolfram Lotz misstraut Erzählungen, den eigenen und denen anderer, eingeschlossen natürlich die über ihn selbst.

Ein Shooting Star

Wenn man nun aber doch etwas über Lotz erzählen wollte, so wäre eine mögliche Erzählung die des Shooting Stars: schon sein Einstand in die Theaterwelt 2011, das Studium am Leipziger Literaturinstitut gerade abgeschlossen, bescherte ihm die Auszeichnung „Nachwuchsdramatiker des Jahres“. Sein nunmehr drittes Stück, „Die lächerliche Finsternis“, wird an deutschsprachigen Theatern derzeit hoch und runter gespielt, es ist eingeladen zum diesjährigen Theatertreffen und nominiert für den Mülheimer Dramatikerpreis.

Die Erfolgs-Erzählung will der 34-jährige Lotz so aber nicht stehen lassen. Momentan liefe es gut, gibt er zu, aber so etwas könne auch ganz schnell wieder vorbei sein. Das mit dem Nachwuchsdramatiker – da sei in dem Jahr eben kein anderer zu finden gewesen. Und wie man ein Stück schreibt, das wisse er eigentlich immer noch nicht.

Derlei Aussagen klängen schnell kokett, würde Lotz nicht eine sonderbare Mischung aus Nachdenklichkeit und Bestimmtheit an den Tag legen. „Ja, aber“ beginnen die meisten seiner Antworten. Bei allem, was er sagt, ist ihm die Anstrengung anzumerken, die Dinge so präzise wie möglich zu formulieren.

An dieser Stelle ließe sich eine weitere Erzählung über Lotz anschließen, die des Stotterers. Das Lotz’sche Stottern ist ein unauffälliges – das kurze Stocken vor einem Laut, ein flüchtiges Aussetzen im Sprachfluss. Wenn Lotz stottert, zucken seine Augen- und Mundwinkel, das ganze Gesicht scheint dann mitzuarbeiten an der Formulierung.

Im Grunde stottern auch die Stücke von Wolfram Lotz. Sie springen hin und her zwischen Witz und Sentimentalität, zwischen Empörung und Ironie, zwischen Realität und Fantasie. Was die einzelnen Teile zusammenhält, sind vor allem die Brüche, die sich durch die Texte ziehen.

Für Lotz ist das Stottern freilich etwas durchaus Positives. Wenn man stottere, müsse man sich die Sprache erkämpfen, sagt er, und das heiße auch, man müsse die zu sagenden Dinge noch viel unbedingter sagen wollen.

Von dieser Unbedingtheit zeugen Lotz’ Stücke. Sie muten dem Theater einiges zu: mal wird gefordert, den tatsächlichen Josef Ackermann, Bakunin oder Lotz’ Mutter auf die Bühne zu beten, mal soll ohne Publikum gespielt werden, mal ist der Hindukusch ein Fluss in Afghanistan. Noch eine mögliche Erzählung zu Lotz wäre also die des Theatererneuerers. Denn tatsächlich formuliert kaum ein deutschsprachiger Gegenwartsautor so klar, was für ein Theater ihm vorschwebt. „Das Theater ist der Ort, an dem die Fiktion in Wirklichkeit umgewandelt wird“, heißt es in Lotz’ so poetologisch wie poetisch daherkommender „Rede zum unmöglichen Theater“. Also müssten Stücke das Theater herausfordern, in ihnen sollten Bomben implodieren und Pelikane bellen, verlangt Lotz da. Denn, erläutert er im Gespräch, die Zwänge der Wirklichkeit würden erst sichtbar im Formulieren des Unmöglichen. Oder, anders gesagt: „man begreift erst, dass ein Stein nach unten fällt, wenn man eigentlich will, dass er nach oben fällt“.

Total inkonsequent

Allerdings, als „Windmühlenkämpfer“ im Theaterbetrieb möchte sich Lotz auch nicht dargestellt wissen. Das Radikale sei nämlich so gar nicht seine Sache. „Ich bin total inkonsequent und das ist mir auch total wichtig“, sagt Lotz. Im Übrigen, sein erstes Stück, „Der große Marsch“, als Kritik des Gegenwartstheaters zu lesen, das sei ein Missverständnis unter den Feuilletonisten gewesen.

Dieses Missverständnis kommt natürlich nicht von ungefähr. Wer sich ein bisschen in der Szene auskennt, erkennt schnell, über welche Protagonisten des politischen Theaters sich Lotz lustig macht. Dass es eingangs heißt, „Die meisten Theaterleute sind (natürlich gibt es Ausnahmen) Arschgesichter“, dürfte auch nicht ganz unschuldig an dem Missverständnis gewesen sein. Er würde das heute nicht mehr so machen, sagt Lotz. Denn eigentlich sei es ihm nie um eine institutionsinterne Kritik gegangen, sondern, nun ja, um die Wirklichkeit. Und im Theater sei die Wirklichkeit eben das Theater. Natürlich wiederholten sich dort die Dinge, „aber es geht nicht ums Theater, sondern es geht um diese Dinge“, meint Lotz.

Die Dinge, um die es Lotz eigentlich geht, das sind die Erzählungen der Wirklichkeit, die von Medien, von Politik oder Literatur an uns herangetragen werden. Ohne diese Erzählungen geht es nicht, das weiß auch Lotz. Aber, beanstandet er, „es gibt bestimmte Ausschnitte aus der Wirklichkeit, die einfach keine der üblichen Geschichten sind, die aber trotzdem stattfinden“. Die soziale Armut des Hartz-IV-Empfängers, die hungernden Kinder in Afrika – dafür hätte man entweder keine Erzählungen oder sie seien auserzählt bis zur Bedeutungslosigkeit. Bestimmte Erzählungen „kaputtzuerzählen“, damit sich neue Möglichkeiten freisetzen, darum geht es Lotz. Deswegen wehren sich alle Figuren des Lotz-Universums gegen das öffentliche Bild, das von ihnen gehandelt wird – sei es Thilo Sarrazin, Rudolf Moshammer oder der wegen Inzest verurteilte Patrick S. – und alle tun sie es vergeblich.

Abstrakte Anspielungen

Man könnte den Autor Lotz also durchaus als einen politischen Autor bezeichnen. Denn „wie wir die Welt wahrnehmen, ob sie uns einfach oder kompliziert erzählt wird, ist entscheidend dafür, wie wir in ihr handeln“, so Lotz. Und das sei, findet er, natürlich etwas Politisches. Nichtsdestotrotz, so richtig glücklich ist Lotz mit dem Etikett des Politischen auch nicht. Kunst sei ja immer politisch, jede gesellschaftliche Aussage. Dass sein jüngstes Stück, „Die lächerliche Finsternis“, nun politische Sachverhalte konkreter anspreche als zuvor, habe, vermutet er, auch etwas damit zu tun, dass die Theaterkritiker die abstrakteren Anspielungen eben oft übersehen hätten. Und tatsächlich scheinen sich Rezensenten leichter zu tun, „Die lächerliche Finsternis“ zusammenzufassen als die ersten beiden Stücke. Immerhin gibt es eine durchgängige Handlung und ein klar erkennbares Thema: der koloniale Blick des Westens. Zu sehen sind deutsche Soldaten, die in geheimer Mission die afghanische Wildnis bereisen, Kernstück des Textes ist die Verteidigungsrede eines somalischen Piraten vor einem Hamburger Gericht. „Aber“, meint Lotz, das mit dem Thema, „das ist halt auch gefährlich“. Gefährlich, weil man an einen bestehenden Diskurs andocke, anstatt ihn zu hinterfragen.

Was alle Lotz’schen Stücke dann schließlich doch zusammenzuhalten scheint, ist der Witz. Ein anarchischer, absurder Humor, dessen Pointen die Bruchstellen sind, an denen der Zuschauer irritiert aufhorchen soll, weil sich etwas verschoben hat in der Darstellung der Wirklichkeit. Der somalische Pirat in „Die lächerliche Finsternis“ etwa berichtet von seinem Diplomstudium der Piraterie an der Hochschule von Mogadischu – auf dem Stundenplan unter anderem das „In-die-Luft-Schießen mit einem Maschinengewehr aus Freude oder zum Einflößen von Angst“.

Der Witz also. Nur, dass Lotz entschieden klarstellt, dass das Komische für ihn kein Wert an sich sei. „Für mich ist es eh alles ernst“, sagt Lotz. Völlig ungerührt sagt er das und deshalb muss man es ihm wohl glauben.

Dann kommt die spanische Wurst, die sehr gut aussieht. Einmal rutscht Lotz beim Schneiden das Besteck aus und es klirrt auf dem Teller. „Tschuldigung, das ist jetzt die Hebelwirkung der Wurst“, sagt Lotz da.

Völlig ungerührt sagt der völlig ernste Dramatiker Wolfram Lotz das.