Zusatz statt Zutat

Das Zeughaus-Kino präsentiert die Filmreihe „The Future of Food“: Unter anderem mit Jorge Furtados halsbrecherischer Montage über das Schicksal einer Tomate von der Aussaat bis zu ihrem Verzehr

VON BERT REBHANDL

Die Tomate ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Zukunft des Essens aussehen könnte. Ursprünglich eine sehr geschmackvolle, in vielen Formen und Farben wachsende Frucht, findet sich heute selbst in den Biosupermärkten meist nur noch jene geschmacksneutrale, normierte Frucht, auf die sich Produzenten und Konsumenten nördlich des Alpenhauptkamms geeinigt zu haben scheinen. Doch die Gegenrevolution ist schon im Gang. Klandestine Gärtner bringen in konspirativer Zucht die abenteuerlichsten, erst auf den zweiten oder dritten Blick als Tomaten erkennbaren Früchte ans Sonnenlicht, und abenteuerlustige Konsumenten nehmen lange Autofahrten auf sich, um dazu den besten Büffelmozzarella zu finden.

Die Tomate ist ein guter Einstieg in die Filmreihe „The Future of Food“, die das Zeughauskino im Deutschen Historischen Museum im Januar ausrichtet. An der Tomate wird die „Zukunft der Nahrung“ ersichtlich. Zum Beispiel in „Ilha das Flores“ („Die Blumeninsel“, 1989) von Jorge Furtado, der in einer halsbrecherischen Montage das Schicksal einer Tomate von der Aussaat bis zum Verzehr (mit Zwischenstationen in einem bürgerlichen Haushalt und auf einer Mülldeponie) erzählt. „Das ist kein Spielfilm. Die Blumeninsel existiert. Gott existiert nicht“, schickt Jorge Furtado in einem Insert der Viertelstunde Film voraus, in der er eine enorme Menge an kulturhistorischem Material zu einem komplexen Bild der Zusammenhänge verarbeitet. Der Mensch kann mit Daumen und Zeigefinger eine Klammer bilden – aus diesem Evolutionsprivileg resultiert der Fortschritt, der irgendwann Tomaten so zahlreich werden ließ, dass die weniger schönen Exemplare im Abfall landen. Dort werden sie dann von den Armen gefunden und verzehrt. „Ilha das Flores“ kennt keine isolierten Akte. Jede Handlung steht in einem größeren Kontext. Nicht immer ist Jorge Furtado in der Darstellung dieses Kontexts hundertprozentig seriös, im Gegenteil, der betont wissenschaftliche Kommentar aus dem Off wird von den wuchernden Bildern immer wieder der Lächerlichkeit preisgegeben – vermutlich ist es aber gerade dieses anarchische Prinzip, das dem Film seine anhaltende Popularität eingetragen hat.

Er läuft in der Reihe „The Future of Food“ in einem Kurzfilmprogramm, das größtenteils spielerisch auf die Anforderungen an heutige Konsumenten reagiert: In „Readme“ macht sich Jenny Kneis in kürzester Zeit ihren Reim auf die Produktinformation, die auf jedem Müsliriegel und jedem Fertiggericht zu lesen ist – futuristische konkrete Poesie aus dem modernen Alltag. Wo früher Zutaten waren, sind heute Zusatzstoffe.

Schon früh hat Erwin Keusch darauf reagiert: Sein seinerzeit sehr populärer Film „Das Brot des Bäckers“ (1976) erzählte von einem Bäcker in Franken, der sich unter dem Druck der industrialisierten Produktion früh spezialisiert – auf das wahre Schrot und Korn, das heute wieder so gefragt ist. Für Keusch vertritt der Bäcker eine im Prinzip noch ständisch geprägte Lebensform, die gerade dadurch Widerstandspotential gegen die vollständige Rationalisierung aller Lebensbereiche enthält.

Der Protest gegen diese Rationalisierung, die Peter Krieg 1980 in seinem berühmten Dokumentarfilm „Septemberweizen“ angeprangert hat, hat auf dem Feld des Essens in der Regel zwei Motive, ein moralisches und ein hedonistisches – zwischen diesen Polen muss die politische Relevanz der „Future of Food“ ausgehandelt werden. Nicht ganz zufällig kommen drei kanonische dokumentarische Werke der jüngeren Zeit zum Thema aus Österreich, wo gern moralisiert wird und der Hedonismus eine Hochburg hat. „Unser täglich Brot“ von Nikolaus Geyrhalter, „Darwin’s Nightmare“ von Hubert Sauper und „We Feed the World“ von Erwin Wagenhofer zeigen mit jeweils eigener Schwerpunktsetzung die Voraussetzungen der Warenform: Was im Kühlregal perfekt den Bedürfnissen zu entsprechen scheint, hat doch eine Vorgeschichte (im Käfig, am Fließband, im postkolonialen Afrika, im postkommunistischen Rumänien), von der zu abstrahieren ursprünglich ein Fortschritt war – sonst wären wir immer noch Jäger und Sammler.

Es zählt zu den zentralen Mythen der Gegenwart, politische Interventionen seien wesentlich Konsumentscheidungen. Für das dokumentarische Kino ist dieser Zusammenhang ein Glücksfall: Indem es zeigt, was die Werbung und die Produktinformation verschweigen, macht es nicht nur einen ursprünglich integralen Prozess über dessen Entfremdungen hinweg wieder sichtbar – es wird geradezu zu einer Agentur kritischer Ganzheitlichkeit. Die Selbstreflexivität, für Jorge Furtado noch unabdingbar, büßt es dabei leicht ein. Die Tomate ist ein Differenzkriterium, auch wenn man das nicht immer schmeckt.