Die Sehnsucht ist unteilbar

Von Primzahlen und anderen Problemen des menschlichen Miteinanders: Atle Naess analysiert in „Die Riemannsche Vermutung“ die Lebenskrise eines Mathematikers

VON KOLJA MENSING

Der Titel dieses Romans führt leider direkt in die höhere Mathematik. Die Riemann’sche Vermutung bezieht sich auf Primzahlen, auf Zahlen also, die sich nur durch 1 und sich selbst teilen lassen. Die Verteilung dieser Zahlen ist auf den ersten Blick völlig willkürlich. Auf 6.917 folgt die nächste Primzahl erst mit 6.947, die übernächste „unteilbare“ Zahl liegt mit 6.949 allerdings nur einen Zweierschritt entfernt: Primzahlen, könnte man meinen, sind ein Indiz dafür, „dass Gott einen Sinn für das Bizarre hat“.

Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichte der deutsche Mathematiker Bernhard Riemann einen Aufsatz mit dem schlichten Titel „Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Größe“, mit dem er Ordnung in das zahlentheoretische Chaos bringen wollte. Seine Behauptungen konnten bis heute nicht bewiesen werden. Im Zeitalter des Internets sind sie allerdings äußerst brisant geworden. Primzahlen spielen eine wichtige Rolle bei der Verschlüsselung von Daten, jede Online-Banküberweisung wird mit ihrer Hilfe kodiert. Ein Beweis der Riemann’schen Vermutung würde der Kryptografie ungeahnte Möglichkeiten eröffnen, und das renommierte Clay Mathematics Institute hat für die Lösung des Rätsels mittlerweile einen Preis von 1 Million Dollar ausgesetzt.

Keine Angst. Man muss sich nicht mit „komplexen Umkehr-Integralen“ und „RSA-Schlüsseln“ beschäftigen, um „Die Riemannsche Vermutung“ zu lesen. Der norwegische Schriftsteller Atle Naess interessiert sich mehr für Menschen als für Gleichungen. Sein Erzähler Terje Huuse lehrt als Mathematiker an der Universität Oslo, und weil es mit seinen eigenen Forschungen nicht weitergeht, lenkt er sich mit einer Biografie über sein großes Vorbild Bernhard Riemann ab. Unter anderem fährt er nach Deutschland, um in den Universitätsarchiven in Göttingen und Berlin nach unveröffentlichten Dokumenten zu suchen. Der Roman ist aus Huuses Reisenotizen und Tagebucheintragungen zusammengesetzt, und Atle Naess erzählt auf diesem Weg ganz nebenbei die tragische Lebensgeschichte Riemanns – eines menschenscheuen und depressiven Wissenschaftlers, dessen Name heute nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt ist. „Euler, Gauß, Bohr, Heisenberg. Aber Riemann? Wer hat jemals von Riemann gehört?“

Das Scheitern Riemanns und die „Armut seines Alltags“ geben die ideale Projektionsfläche für die Selbstzweifel des Erzählers ab, und darum geht es dann auch in diesem Roman. Terje Huuse ist 43 Jahre alt, er hat „graue Schläfen und einen Backenzahn mit Wurzelfüllung“ und steckt mitten in einer Midlife-Crisis. Als Wissenschaftler hat er keinen Erfolg, und seine Ehe mit einer Lehrerin hat sich in eine „reibungsarme Arbeitsgemeinschaft“ verwandelt. Mit wenigen treffenden Worten beschreibt Atle Naess das übertrieben geschmackvolle Bildungsbürgerinterieur der gemeinsamen Wohnung, die Sigurd-Winge-Grafiken, die Arvö-Pärt-CDs und die zeitgenössischen Romane im Bücherregal – und tastet sich so langsam an „die dünne Wand“ aus Respekt und Routine heran, die Huuse und seine Frau voneinander trennt.

Vorläufiger Höhepunkt der fortschreitenden ehelichen Entfremdung ist das Weihnachtsfest. Er schenkt ihr ein Buch, über das sie sich „pflichtgemäß“ freut, sie schenkt ihm einen neuen Jogginganzug, weil der alte „schon recht ausgebeult“ ist. Aus diesem lieblosen Zustand der „selbstverständlichen Fürsorge“ flüchtet Huuse sich nun in die Affäre mit einer anderen, ebenfalls verheirateten Frau. Und auch hier zeichnet Naess mit wenigen Strichen ein äußerst realistisches Bild: heimliche Telefongespräche während der Arbeit, das schlechte Gewissen, das Teil des Alltags wird, und ungeschickte Berührungen zwischen zwei Menschen, die über eine lange Zeit hinweg ausschließlich Sex mit ihrem Ehepartner hatten: „Rasch spürten wir die Beschränkungen, die einem ein geparktes Auto auferlegt.“

Mit Zahlentheorie hat das zunächst wenig zu tun. Doch die Mathematik liefert Atle Naess die metaphorische Sprache für die ungelösten Probleme des menschlichen Miteinanders. Präzise zerlegt er die komplexe Gefühlswelt einer langjährigen Mittelstandsehe und des dazugehörigen Seitensprungs nach und nach in ihre Primfaktoren, bis es schließlich nicht mehr weitergeht. „Die Sehnsucht ist eins und damit unteilbar“, erkennt sein Erzähler Huuse zuletzt. Also greift er zu der einzigen Lösung, die einem Mathematiker bleibt, wenn seine Gleichungssysteme nicht aufgehen wollen: „Hebe den Hammer und zerschmettere die Voraussetzungen.“ Damit ist die Tragödie perfekt.

Atle Naess: „Die Riemannsche Vermutung“. Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob. Piper, München 2007, 203 Seiten, 16,90 Euro