Wie die Mutter, so die Tochter

Die Publizistin Alexandra Senfft beendet mit ihrer Familiengeschichte „Schweigen tut weh“ eindrucksvoll ein innerfamiliäres Schweigekartell über die NS-Vergangenheit ihres Großvaters

Kindheit in den 1960er- und 1970er-Jahren in einem Juristenhaushalt in Hamburg. Eine Wohnung in Harvestehude, eine strahlende, charmante Hausherrin, deren Kochkünste legendär sind. Die intellektuelle Elite der Zeit geht ein und aus.

So weit die Fassade.

Doch wie sieht es dahinter aus? Alexandra Senfft beschreibt ihre Kindheit als Tochter einer alkoholkranken, haltlosen, fordernden, egozentrischen, zeitweise depressiven Mutter, die außer Stande war, ihren beiden Kindern Geborgenheit und Selbstvertrauen zu geben. Sieben Jahre nach dem Tod ihrer Mutter beginnt die Autorin, sich mit deren Kindheit und Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus und in den Nachkriegsjahren auseinanderzusetzen. Aus hinterlassenen Briefen und Dokumenten, ergänzt durch Gespräche mit ihren Verwandten und mit Freunden der Eltern, rekonstruiert sie die seelischen Umstände, unter denen ihre Mutter und letztlich auch sie selbst aufwuchsen.

Die zentrale Figur in diesem Beziehungsnetz ist der Großvater der Autorin: Hanns Elard Ludin, Gesandter des NS-Regimes in der Slowakei von 1941 bis 1945, als Kriegsverbrecher in Bratislava hingerichtet am 9. Dezember 1947. Wie die Rolle des Vaters zu bewerten sei, darüber gab es schon bei Kriegsende – wie vermutlich in nicht wenigen Familien in vergleichbarer Situation – eine innerfamiliäre Sprachregelung: Hanns Ludin war ein „guter Nazi“, dem das Wohl der slowakischen Bevölkerung am Herzen gelegen und der sogar einige Juden gerettet habe. Über Details wurde nicht gesprochen. Das Schweigen über die Haftzeit des Vaters nach 1945 und seinen gewaltsamen Tod hinterließen bei dessen Frau und den sechs Kindern im Alter zwischen 5 und 14 Jahren ein Vakuum, das, so die nachvollziehbare Überzeugung der Autorin, das Leben aller Familienmitglieder bis heute prägt.

Diese Leere, dieses Schweigen auszuloten hat sich Alexandra Senfft vorgenommen. Gestützt auf die unzähligen Briefe aus dem Nachlass ihrer Mutter und Großmutter entwirft sie ein von ihren persönlichen Eindrücken und Reflexionen durchzogenes Bild ihrer Familie. Dabei schildert sie die politische Entwicklung ihres Großvaters vom Sozialisten zum Nationalsozialisten und schließlich zum höchsten politischen Repräsentanten des NS-Regimes in Pressburg (Bratislava), das Leben der Gesandtenfamilie in der Slowakei, die Lebensumstände der Witwe und ihrer Kinder in Süddeutschland, die schulische Entwicklung und die Ausbildung ihrer Mutter im Nachkriegsdeutschland sowie die Ehe ihrer Eltern und deren Scheitern. Indem die Autorin Briefzitate mit Paraphrasen der Briefe und zusätzlichen Informationen eng verknüpft, entsteht ein faszinierend dichtes Bild des Alltags im seelischen Ausnahmezustand. Eine beklemmende Erkenntnis beim Lesen ihrer Schilderungen ist es, dass diese psychische Zwangslage im Nachkriegsdeutschland keineswegs auf die Nachkommen politisch exponierter Persönlichkeiten beschränkt war. In wie vielen Familien mag es derartige Schweigekartelle gegeben haben?

Alexandra Senffts Perspektive auf ihre Familie ist die der ältesten Tochter auf ihre Mutter Erika und ihre Großmutter Erla. Ebenso wie Alexandra ist auch Erika die älteste Tochter. Die Hauptquelle bildet der Briefwechsel zwischen der Witwe Erla und ihrer Tochter Erika. So entsteht ein intensives Drei-Frauen-Bildnis. Das ist faszinierend und zeigt schon allein äußerlich bedrückende Parallelen im Lebensweg der Autorin und ihrer Mutter: Beide Mutter-Tochter-Paare waren sehr eng aufeinander bezogen, beide Töchter verbrachten ihre Pubertät in Internaten, beide kämpfen in der gleichen Lebensphase mit ihrem Gewicht, in beiden Beziehungen spielen die Väter eine sehr marginale Rolle.

Wie viele Verhaltensweisen und Überlebensstrategien darüber hinaus in der nächsten Generation nachhallen, lässt sich erahnen. Diese „Stille Post“ zu beenden ist das erklärte Ziel der Autorin. Andererseits macht es die Tunnelperspektive schwer, das Handeln der Beteiligten einzuordnen und nachzuvollziehen. Die Mutter der Autorin hatte fünf Geschwister, die alle Teil des familiären Beziehungsnetzes waren. Zweifellos war die Beziehung zwischen der Witwe und ihrer ältesten Tochter besonders eng, zumal diese als einzige eine lebhafte Erinnerung an den Vater hatte, doch wünschte man sich, die Stimmen der anderen Familienmitglieder zu den beiden Protagonistinnen Erla und Erika zu hören. Ebenso wünschte man der Autorin manchmal mehr Mut, das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter aus ihrer eigenen Perspektive zu charakterisieren, anstatt sich auf psychologisierende Erklärungen zurückzuziehen.

Mehr erfahren hätte man auch gern über die Umstände, die schließlich den Kern des Familienmythos betrafen: die Rolle von Hanns Ludin als NS-Gesandter in der Slowakei. Über diesen Aspekt der deutschen Geschichte ist noch zu wenig publiziert worden, als dass man beim Lesen die bruchstückhaften und sehr persönlichen Informationen aus den Briefzitaten der Familie einordnen könnte. Wie sehr die NS-Zeit die Familie Ludin geprägt hat und auf welch perfide Weise die seelischen Zerstörungen bis heute fortwirken, wird in Alexandra Senffts Buch überdeutlich. SABINE VOGEL

Alexandra Senfft: „Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte“. Claassen Verlag, Berlin 2007, 351 Seiten, 19,95 Euro Zur Familiengeschichte der Ludins ist auch ein Film von Alexandra Senffts Onkel Malte Ludin empfehlenswert: „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“, 85 Min. + Extras, 17,90 Euro