„Die Gewalt kann zur Realität werden“

Es droht in Deutschland zwar kein Rapper-Krieg wie einst in den USA, meint der Hiphop-Experte Tobias „Toxik“ Kargoll. Trotzdem sollte man die angeblichen Schüsse auf den Rapper Massiv in Berlin nicht vorschnell als Inszenierung abtun

TOBIAS KARGOLL, geboren 1983 in Unna, ist seit 2005 bei Hiphop.de, dem wichtigsten deutschen Online-Portal für die Szene. Außerdem schreibt er für das Rap-Magazin Juice, das in München erscheint, und in seinem prollblog.de über die Hiphop-Kultur. Kargoll lebt in Düsseldorf und will dort in diesem Jahr sein Studium der Sozialwissenschaften abschließen. Unter dem Künstlernamen Toxik ist er auch als Rapper aktiv.

taz: Herr Kargoll, der Rapper Massiv soll in Berlin auf offener Straße angeschossen worden sein. Hat Sie das überrascht?

Tobias „Toxik“ Kargoll: Schon. Es war in der Szene zwar schon eine Eskalation zu erkennen: von Leuten, die auf die Bühne springen, um dem Gangster-Rapper eine mitzugeben, bis zu Fler, der mit einem Messer attackiert wurde. Aber dass dabei gleich Schusswaffen zum Einsatz kommen, ist dann doch überraschend.

Massiv selbst ließ über einen Sprecher verlauten, er habe mit so etwas nicht gerechnet. Warum sind Rapper überrascht, wenn die gewalttätige Welt, die sie in ihren Texten beschreiben, plötzlich Realität wird?

Wenn die Realität tatsächlich so sein sollte, wie der Rapper sie in seinen Texten beschreibt, klingt seine Aussage natürlich seltsam. Aber Massiv ist momentan sicher hauptsächlich mit seiner Rap-Karriere beschäftigt. Seine Texte beziehen sich eher – wenn überhaupt – auf die Vergangenheit.

Wie kann es sein, dass die Schüsse auf Massiv bereits vier Minuten später im Internet vermeldet worden sein sollen?

Da liegt natürlich die Vermutung nahe, dass man es mit einer Promo-Aktion zu tun hat. Die Frage ist nur, ob diese Zeitangaben tatsächlich so stimmen. Auf Massivs Fanseite ist schon von 20 Minuten die Rede. Das wäre zwar auch ziemlich schnell – aber da Freunde von ihm dabei waren und wir im Zeitalter des Handys leben, auch nicht wirklich überraschend. Man muss da grundsätzlich sehr vorsichtig sein, immer gleich eine Inszenierung zu unterstellen. Denn man darf auch nicht denken, Gangster-Rap wäre nur ein von Major-Labels inszenierter Zirkus, in dem verblödete Halbaffen ihren amerikanischen Vorbildern nacheifern, während die Realität ganz harmlos wäre. Uns wird eine zugespitzte, für die Medien aufbereitete Form von Straßen-Rap präsentiert. Aber die hat trotzdem authentische Wurzeln.

Wenn der Vorfall nicht inszeniert war: Wer steckt dahinter?

Schutzfamilien, die hinter manchen Rappern stehen sollen? Oder das organisierte Verbrechen? Das ist schwer zu sagen. Dazu müsste man wissen, wie angespannt die Lage wirklich ist. Aber das weiß nur die Polizei – alles andere ist reine Spekulation.

Könnte es sein, dass wir am Anfang eines Rapperkriegs stehen, wie er in den Neunziger Jahren in den USA Tupac Shakur und Biggie Smalls das Leben kostete?

Ich glaube nicht, weil es bei uns keinen solchen Konflikt gibt wie damals in den USA zwischen Eastcoast und Westcoast. Was aber nicht heißt, dass nicht irgendjemand sterben könnte. Mir fallen spontan mindestens zwei Rapper ein, die durch Messerattacken fast gestorben wären. Interessanterweise allerdings ging es bei den beiden um Graffiti und nicht um Rap.

Das Landeskriminalamt vermutet, dass hinter Rappern wie Massiv und Bushido rivalisierende Schutzfamilien stehen, die im organisierten Verbrechen ihr Geld verdienen.

Wenn das so ist, dann könnte es natürlich sein, dass eine Organisation ein Attentat auf den Rapper der anderen Organisation verübt hat – so, wie man sich sonst gegenseitig die Pizzeria anzündet. Auszuschließen ist das nicht. Wenn es als Gangster-Rapper mittlerweile dazugehört, sich den Rücken freihalten zu lassen, dann kann sich das auch mal verselbstständigen, und die Gewalttexte werden zur Realität.

Haben wir bald amerikanische Verhältnisse?

Nein. In den USA sterben fast regelmäßig Rapper – was aber mindestens so viel mit ihrer Gettoherkunft zu tun hat wie mit ihrer Rap-Karriere.

Trotzdem: Haben die Medien die Brisanz des Themas unterschätzt?

Ja. Vor allem die Mainstream-Medien haben sich lustig gemacht, die Szene nicht ernst genommen. Natürlich hat ein überzogenes Gangsta-Rap-Image auch etwas Lächerliches. Aber es speist sich ja aus der Realität. Es besitzt ja in manchen Vierteln nicht erst jeder ein Messer, seit Bushido erzählt hat, er trage immer eines bei sich.

Welchen Anteil haben Medien wie die Bravo, Juice oder Hiphop.de an der Inszenierung?

So wie die taz – mal mehr, mal weniger. Das Internet-Magazin Hiphop.de hat den deutschen Gangsta-Rap anfangs noch boykottiert. Doch irgendwann war es nicht mehr möglich, nicht über diese Szene zu berichten. Man steckt natürlich in einem Dilemma: Es ist scheinheilig, einerseits kritische Artikel zu bringen und andererseits immer wieder den krassesten und härtesten Rapper auszurufen. Das ist so, wie wenn auf n-tv diskutiert wird, wie schlimm Krieg ist, und am nächsten Tag die spektakuläre Dokumentation über die Waffen der Navy gezeigt wird.

Wird der Vorfall die Medienberichterstattung verändern?

Ich glaube nicht. Es ist nach wie vor ein Drahtseilakt, kritisch zu berichten, ohne das Ganze zu glorifizieren.

INTERVIEW: THOMAS WINKLER