Mit den Augen hören lernen

Rami Be’ers „With your eyes“ erzählt keine Geschichte, sondern widmet sich in 20 Bildern dem Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv. Das Ergebnis berauscht mehr, als dass es berührt, dem Oldenburger Publikum aber gefiel’s

Wer je ein Erstsemester-Tutorium, eine kirchliche Jugendfreizeit oder eine andere pädagogische Gruppenzusammenschweißung mitgemacht hat, kennt die Situation: Da stehen sie in einer Reihe, angespannte Gesichter, warten, dass einer den Anfang macht. „Maria aus Deutschland“ oder „Robert aus Polen“, so stellen sie sich vor, jeweils mit einer Bewegung wie aus dem Lehrbuch der Erwachsenenbildung.

Die halbe Welt steckt in der Compagnie Nordwest wie in der sprichwörtlichen Nussschale: von Südkorea über die Vereinigten Staaten bis Italien. Aber den Extra-Applaus steckt natürlich „Angela aus Oldenburg“ ein. Erlaubt sich Gast-Choreograph Rami Be’er hier etwa einen Spaß über seine durchaus diplomatische Aufgabe, die TänzerInnen des Oldenburgischen Staatstheaters und des Bremer Theaters in ihrer ersten gemeinsamen Produktion zusammenzuführen?

Denn während andere Theater ihre Tanzsparten eingespart oder fusioniert haben, gehen Bremen und Oldenburg einen konstruktiveren Weg: Sie tauschen ihre Produktionen aus, und einmal pro Spielzeit gibt es eine gemeinsame Choreographie. All das passiert in diesem Monat zum ersten Mal. „How do you do“ vom Oldenburger Hauschoreographen Jan Pusch ist seit dem 18. Januar in Bremen zu sehen, die Bremer Produktion „Voyage“ kommt am 25. Januar nach Oldenburg. Und die gemeinsame Arbeit, eben „With your eyes“, feierte jetzt ihre begeistert aufgenommene Premiere.

„Nordwest“-Direktor Honne Dohrmann will die Zuschauer mit der Arbeit des israelischen Gastes Rami Be’er langsam an die gesteigerte Tanztheater-Dosis heranführen. Die expressive Bildsprache des Israelis, so hofft Dohrmann, wird dem Publikum den Weg ebnen zu konzeptionelleren, zurückgenommeneren Arbeiten.

So gibt es zu Anfang, im Zuge der Vorstellungsrunde, prompt eine Theoriestunde im Sehen. „With your eyes, not mine“ solle der Betrachter das Geschehen in sich aufnehmen, fordert da ein Tänzer. „Hear with your eyes“, empfiehlt eine Kollegin. Leichter gesagt als getan: „With your eyes“, das ist die volle Dröhnung für die Sinne, mehr berauschend als berührend. Abwechselnd wummert Rockmusik im elektronischen Eighties-Sound und wiegt die Drehwurm-Musik nostalgischer Jahrmarktkarussells den Seher-Hörer ein. Zwischendurch hämmern die Tänzer hypnotisierend wie Zen-Trommler gegen die Kulissen. Zum Sound-Feuerwerk ergießt sich am Schluss ein minutenlanger, rosenroter Konfettiregen über die Tanzenden.

Fern einer chronologischen Erzählung zeigt „With your eyes“ an die 20 Tanz-Bilder, die zum Teil schon in anderen Produktionen Be’ers zu sehen waren. Da sind Duette, die Paarbeziehungen als Kampfschauplätze zeigen. Anstelle psychologischer Nuancen – Markenzeichen des langjährigen Bremer Tanzchefs Urs Dietrich, zeigt Be’er Tanz als physischen Gewaltakt.

Da lassen die Hebefiguren an Ringer denken, die den Gegner über die Schulter werfen. Auch zierliche Tänzerinnen müssen die Männer stemmen, wie überhaupt mit den Geschlechterrollen gespielt wird: Männer steckt Be’er in Röcke und Korsagen, Jae Woh Oh schickt er in einem entblößten Solo im Hühnchengang über die Bühne.

Be’er interessiert sich dafür, wie der Einzelne dem Kollektiv gegenübertritt. So nutzt er die Größe der nordwestdeutschen Doppel-Compagnie vor allem, um eine gleichförmige Phalanx zu bilden, gegen welche die oder der Einzelne antanzt: Nähe suchend, stolz, oder auch – wie in einem der eindrucksvollsten Bilder, in dem eine gefesselte Sunju Kim vor einer Reihe sich expressiv windender Säulensitzerinnen mit einem minimalen Bewegungsspektrum auskommen muss – in sich selbst gefangen. ANNEDORE BEELTE

nächste Vorstellungen: 23. + 27. Januar, 2., 3., 10. + 16. Februar, Oldenburgisches Staatstheater; nach Bremen kommt das Stück im Mai 2008; Internet: www.nordwest-tanz.de