Fast-Liebende

Oh, Onegin!

Ins Ballett gehen vor allem Leute, die in ihrer Jugend selber tanzten. Woran man das sieht? Die Damen, oft korpulent mit großer Oberweite, stehen vorm Einlass der Staatsoper wie eine Eins. Haltung! Brust raus! Das haben sie im Kindesalter gelernt, das bleibt in ihnen bis zum letzten Atemzug. Und die Herren? Etwas knöchern, geben sie sich bemüht leichtfüßig. Tragen Kaftane und Hemden mit Stehkragen statt Krawatten. Jeder ein sich inszenierender Dandy der Kunstwelt.

Einen echten Dandy beschrieb Alexander Puschkin im Versroman „Onegin“, ohne den die russische Literatur nicht zu denken ist. John Cranko schuf dazu ein atemberaubendes Ballett – mit den schwierig-schönsten Sprüngen, die tanzende Liebende je vollbringen mussten.

Aber anders als im Leben ist im Ballett nicht das erfüllte Liebesglück eines brav-biedermeierlichen Paares das höchste der Gefühle, sondern das Umeinanderringen, das Miteinanderhadern, das Sichverpassen der Hauptakteure.

Onegin, der Globetrotter, wird von der Landpomeranze Tatjana vom ersten Anblick an geliebt. Doch er erteilt ihr, trotz mega-erotischem Tanz zu zweit, eine Abfuhr. Nach zehn Jahren trifft er sie wieder, will auf einmal – und erhält selbst den Korb. Allerdings erst nach einem Pas de deux, in dem die Fast-Liebenden zu Akrobaten ihrer verzwickten Leidenschaft mutieren.

„Wie im richtigen Leben“, sagt meine Sitznachbarin, die, als sie ihre Karte kaufte, nicht mal wusste, dass die Musik von Tschaikowsky ist. Eine typische Ballettomanin ist sie nicht. Aber ihre Enkelin, die vom Handy, wird sie wohl in der Ballettschule anmelden. Wie einst meine Omi mich. Onegin, der schöne Snob, hat Schuld!

GISELA SONNENBURG