Im Curry kommt alles zusammen

Wenn man Briten nach ihrem Nationalgericht fragt, dann sagen sie: CTM – Chicken Tikka Masala. Davon können sie nicht genug kriegen. Das indisch-bengalische Gericht ist voll integriert – seine Erfinder aber entfremden sich gerade

AUS LONDON SUSANNE LANG

Das Geheimnis des Erfolgs steckt auf langen, schwarzen Eisenspießen. Hühnchenfleisch, Brust und Flügel, leuchtend rot mariniert, immer drei hintereinander. Der Koch drückt Zeigefinger und Daumen prüfend in das Fleisch, dreht die Stücke und steckt sie schließlich in einen großen Bauch, der Fleisch und Spieße verschluckt: Den Tandoori-Ofen.

Chicken Tandoori – eine jener Spezialitäten, eines jener Erfolgsgeheimnisse indisch-bengalischer Curryhäuser, mit denen die Einwanderer der ersten Generation aus den ehemaligen britischen Kolonien nicht nur die englische Küche revolutioniert, sondern sich einen Platz in der britischen Gesellschaft erobert haben. Es ist ein respektabler Platz, ein fester, wenn auch bis heute vor allem in den unteren Bevölkerungsschichten. Curryhäuser sind ein Spiegel dessen, wie es um die Integrationsfähigkeit der britischen Gesellschaft steht, welche Probleme in ihrer Multikulturalität schlummern. Gerade im Osten Londons, im ärmeren, von Migration geprägten Bezirk Tower Hamlets mit gut einundfünfzig Prozent weißer Arbeiterschicht, gut siebenunddreißig Prozent Südasiaten und sechs Prozent Schwarzen, sind viele der Curryhäuser beheimatet.

Das Clifton in der Brick Lane, das dort zu den größeren zählt, legt etwas mehr Wert auf das Interieur. Die Glasscheiben, die das Restaurant mit offener Küche von der Straße trennen, beschlagen langsam. Draußen stoppen Passanten und schauen neugierig herein. Die Wände ziert ein Streifen aus Holz, in den bengalische Szenen geschnitzt sind: eine Frau im Sari, Elefanten, kleine Hütten, Zweige von Sträuchern. Im Fließenboden sind Muster eingelassen, rote und grüne Blumen. Im Unterschied zu den meisten Lokalen hat das Clifton drei Tischreihen statt nur zwei. Die Stühle sind mit schwarzem Leder bezogen. Auf jedem Tisch wartet eine Wasserflasche neben den Gedecken auf die Gäste – wer Bier trinken will, muss es selbst mitbringen.

In der Küche im hinteren Teil erhitzt der Koch etwas Öl in einer großen, schwarzen Pfanne und gibt grob geschnittene Stücke Lammfleisch hinein. Es zischt scharf. Geruch von Angebratenem zieht durch das Lokal. Lamb Tikka Massala. Eine weitere Curryspezialität, die erst in England entwickelt wurde und mittlerweile Fish and Chips als britisches Nationalgericht abgelöst hat. Noch 2001 hatte Außenminister Robin Cook in einer Lobeshymne auf „Britishness“ die Variante mit Huhn gefeiert: „Chicken Tikka Masala ist ein perfektes Beispiel dafür, wie Großbritannien Einflüsse von außen aufnimmt und anpasst.“ Tikka wird im Gegensatz zur indisch-bengalischen Tradition mit Soße serviert. Ein Tribut an die Briten, die trockenes Fleisch nicht gewohnt waren.

Die ersten Curryhäuser in London eröffneten um 1920. Zum Massenerfolg wurden sie erst in den Sechzigerjahren. Mittlerweile setzen über zehntausend dieser Curryhäuser, indische, pakistanische und bengalische, in Großbritannien jährlich über zwei Billionen Pfund um. In der Brick Lane, die mit Monica Alis gleichnamigem Bestseller von 2004 endgültig zu einer Ikone geworden ist, betreiben Bengalen allein an die vierzig Restaurants. Kleine Läden im Erdgeschoss der niedrigen, braunen Backsteinhäuser, an deren Fassaden in Neonschrift auf Leuchttafeln Namen blinken: Spice Brick Lane, Sweet and Spicy Cuisine, Shalimar, The Monsoon, Safroon Restaurant, Papadoms, The Curry Bazaar. Vor ihren Eingangstüren stehen Kundenanlocker, drängen Passanten vor die ausgestellten Menükarten, empfehlen Lunch- oder Dinner-Spezialangebote.

Das Clifton liegt am Anfang der mittlerweile zur Szenestraße aufgestiegenen Brick Lane – nicht nur geografisch, an der südlichen Ecke zur Whitechapel Street, auch historisch. 1931 eröffnete sein damaliger Besitzer dort das erste Curryhaus hier.

Der Koch öffnet den Deckel des Tandoori-Ofens, zieht einen Spieß nach dem anderen heraus, schiebt die Hühnchenteile in ein silbernes Schälchen und stellt dieses auf einem Servierwagen ab, an dem Mohammad Tahid bereits wartet. Seit drei Jahren managt der kleine Mann in Hemd und Bundfaltenhose nun das Clifton. Er hat es wiedereröffnet, nachdem der Besitzer aus der ursprünglichen Clifton-Familie 1997 gestorben war.

An diesem Freitagnachmittag kellnert Tahid auch. Drei Gäste nehmen einen verspäteten Lunch, Lamb Tikka Massala, Chicken Tandoori, gebratenen Reis und Papadoms, dünne, krosse Scheiben der indischen Brotspezialität. Ansonsten ist das Lokal leer, füllen wird es sich erst wieder gegen Abend. Tahid, der 1978 aus Bangladesch nach London emigrierte, fährt die Speisen auf dem Wagen zum Tisch, wünscht guten Appetit und holt zusätzliches Besteck. „In Curryhäusern hat sich seit den Siebzigerjahren viel verändert, werfen Sie nur mal einen Blick auf die Karte“, sagt er. An die siebzig Speisen bietet das Clifton an. „Früher gab es nur fünf Standardcurrygerichte“, erzählt Tahid, ein um die Fünfzigjähriger, der sein genaues Alter dann doch lieber nicht verraten will, „aber auch wir haben dazugelernt, Geschmäcker sind individuell, darauf haben wir reagiert.“ Gegenüber den Sechzigerjahren erleichtert vor allem der globale Handel den Import von indischen Produkten und Kochutensilien.

Auf Märkten in der South Hall im Osten Londons erhalten Curryhausbesitzer beinahe alles, was sie für ein traditionelles Curry benötigen. Nicht nur die Karte, auch die Curryhäuser haben sich gegenüber den Sechzigern individualisiert und bis zur Exklusivität verfeinert. Neben den traditionellen Arbeitercurryhäusern haben sich nun auch indische Sternerestaurants etabliert, mit prominenten Starköchen. Typisch für die finanzielle und soziale Entwicklung in der Stadt, haben sie sich vor allem im wohlhabenden, schicken Westen Londons angesiedelt. Für die traditionellen Lokale im Osten wie das Clifton haben sich die Bedingungen in der globalen Investmentmetropole London dagegen verschlechtert. Auch an der Brick Lane sind sowohl Mieten als auch Grundsteuer um bis zu siebzig Prozent gestiegen. Ende 2007 mussten bereits fünfzehn Curryhäuser aufgeben. „Ich werde das auch machen, wenn sich die Situation nicht verbessert“, sagt Tahid. „Ich habe keine Lust, nur für Hausbesitzer oder die Regierung zu arbeiten.“ Auf die ist Tahid wie viele andere sowieso nicht gut zu sprechen, seit Labour 2003 die Zuwanderung per Gesetz erschwert hat und Manager wie Tahid kaum mehr Personal finden. Curry selbstverständlich, unbegrenzt und massenhaft – bengalische Zuwanderung aber bitte nur begrenzt.

Kein Wunder, dass diese britische Haltung Tahid ärgert. „In einem Curryhaus kann aber nicht jeder arbeiten“, sagt er, „man muss wissen, wie ein Curry zubereitet wird, man muss die Kultur kennen.“ Vielen Bengalen wird jedoch ein dauerhaftes Visum verweigert. Sie erhalten eine auf zwölf Monate befristete Arbeitsgenehmigung. Und die Jüngeren, die in London geboren wurden, die Kinder der ersten und zweiten Einwanderergeneration? Sie wollen vieles – nur nicht in einem Curryhaus arbeiten. Sie streben in die Mittelschicht, als Anwälte, Banker, Manager. „Ich bin nicht traurig, wenn meine Kinder das Lokal nicht übernehmen wollen“, sagt Tahid. „Jeder soll für sich entscheiden, was er machen, wie er leben will.“

Andere der dritten Generation muslimischer Einwanderer reagieren auf die sozial angespannte Situation in London extrem. Nicht weit von Brick Lane und Whitechapel hat einer von ihnen im Juli 2005 eine Bombe gelegt. Viele der radikalisierten Jugendlichen träumen davon, ein Flugzeug zu sprengen, wie es bei den Anschlägen 2001 in den USA geschehen ist. Einen jener British-Airways-Jets, wie ihn vor zwei Wochen ein Pilotenteam in Heathrow mit einer Notlandung vor dem Absturz bewahrt hat. Als die gefeierten „Helden“ sich in den Medien zum ersten Mal äußerten, gaben sie gern Auskunft darüber, was man denn nach so einem Schock als Erstes gemacht habe: „Erst mal ein gutes Curry gegessen.“

SUSANNE LANG, Jahrgang 1976, Ressortleiterin von taz zwei, nimmt gerade an einem Austausch mit dem Londoner Guardian teil