Wunde Punkte und tastende Blicke

Ruth Cerha erzählt vom Gefühl der Verliebtheit, von schönen Verstörungen und erst verspätet begriffenen Verlusten – der Erzählungsband „Der Gesang der Räder in den Schienen“

Der Titel kommt etwas gewollt lyrisch daher: „Der Gesang der Räder in den Schienen“ ist das Debüt der Österreicherin Ruth Cerha, Jahrgang 1963, in dem sie sechs Erzählungen versammelt. Doch kommt dieser Titel nicht von ungefähr. Es ist die Sprache, die zuerst aufmerken lässt. Ruth Cerha, ausgebildete Musikerin, hat ein feines Gefühl für Rhythmus. Ihre Sätze folgen wie atemlos aufeinander, seltsam gleichbleibend ist dieser Rhythmus – da ist das Bild vom Gesang der Zugräder nicht schlecht gewählt.

In der ersten Erzählung „Vertikal“ geht es um Leon und Janni: eine Liebe, die von falschen Voraussetzungen ausgeht. Sein wunder Punkt, das Misstrauen, befördert den ihren, das Lügen oder besser: die Unfähigkeit, die Wahrheit ganz zu erzählen. Weil er zu Beginn, um sich sicherer zu fühlen, wenig spricht, erzählt sie um so mehr Geschichten aus ihrem Leben. Wie sich aus dieser Konstellation heraus die unaufhaltsame Dynamik seinen Misstrauens entwickelt, erzählt Cerha, indem sie ganz dicht an ihre Figuren herangeht. Innere und äußere Bewegungen und Regungen sind ihr dabei gleich wichtig. Kleine Gesten, ein Gang vom Bett in die Küche – sehr detailliert erzählt die Autorin und erwähnt doch nur für die Situation Bedeutsames. Ihre Tonlage verändert sich kaum, ob Cerha nun die Kränkung Leons beim Entdecken der ersten Lüge beschreibt oder das gemeinsame Frühstück danach, eine Situation, die ganz durchdrungen ist von dem Riss in der Verliebtheit. „Leon ist unausgeschlafen, das verknitterte Hemd hängt ihm aus der Hose, er fühlt sich weich und ungeschützt. Er will Janni umarmen, sie ausziehen, er will sie nochmals ins Bett tragen, doch als Janni, wie immer schneller als er, ihm einen guten Morgen wünscht, ihn fragt, ob er auch Kaffee möchte, ob er gestern auf dem Sofa geschlafen hat, sagt er: Du bist sechsundzwanzig, er wollte es gar nicht sagen (…).“ Der Riss wird größer werden.

Vom Gefühl der Verliebtheit als einer schönen Verstörung erzählt „Rembrandt“. Rembrandt, der so heißt, weil er schon immer gemalt hat, schläft am Tage und malt in der Nacht, weil er nur so nicht „verrückt“ wird. Im Nachtbus trifft er Mia, die scheinbar ziellos durch die Stadt fährt, immer im gleichen Bus sitzt. Dieser wird zum Ort ihrer regelmäßigen Begegnungen, eingetaucht in eine Atmosphäre flüchtiger Intensität– das ist eine gelungene, schöne erzählerische Situation. Mia bleibt fort, taucht wieder auf, Rembrandt folgt ihr heimlich – in die psychiatrische Abteilung einer Klinik. Das könnte leicht ins Klischee kippen, Cerha aber gelingt eine zarte Umkreisung der Frage nach sogenannter Normalität und Verrücktheit.

Meist erzählt Cerha aus der Ich-Perspektive – und überzeugt auch, wenn sie sich in eine männliche Figur versetzt; so wie in der vielleicht stärksten Geschichte, der Titelerzählung. „Ich begriff nicht, dass ich mich im freien Fall befand“, konstatiert der Protagonist, der sich nach dem Tod seines Vaters in ein abbruchreifes Haus in Berlin zurückgezogen hat, direkt an den Gleisen. Orte, Räume spielen bei Cerha ein wichtige Rolle. In dieser Erzählung eines erst mit Verzögerung begriffenen Verlusts tritt dies besonders stark hervor. Das Haus ist ein nur temporärer Rückzugsort, die Züge verstärken den Moment der Unruhe. Die Trauer bricht schließlich mit Macht herein.

Die Erzählhaltung changiert zwischen realistischer Beschreibung und Unwirklichkeit, zwischen Erinnerung und Traum – eine Verwischung der Grenzen, die in allen Erzählungen variiert wird. Schön ist der Kontrast zwischen der Verschließung der Figur und ihrer Verletzlichkeit durch den Vater, die in den Träumen aufscheint. Atmosphärisch dicht sind die Szenerien. Die Erzählungen funktionieren wie hochkonzentrierte Kammerspiele: Meist ist es ein Raum zwischen zweien, den sie eröffnet. Wie sich dann beide in diesem neuen Raum verhalten, interessiert die Autorin, wobei es immer eine Figur gibt, die im Zentrum steht. In welchen Aufruhr er oder sie gerät, darauf richtet sich Cerhas fein tastender und darum oft sehr genauer Blick. CAROLA EBELING

Ruth Cerha: „Der Gesang der Räder in den Schienen“. Luftschacht Verlag, Wien 2007, 185 Seiten, 19,90 Euro