Versprechen im Zwielicht

Tanger, einst viel beschworene Traumsequenz, soll wieder begehrenswert werden. Eine Reihe binationaler Familien glaubt schon wieder an den sanierten Mythos. Ein Stadtporträt

VON ELISABETH WELLERSHAUS

Das Schnellboot braucht eine knappe Stunde, die reguläre Fähre etwas länger. Aber letztlich ist es auch egal, ob eine Stunde oder drei Stunden: Der Weg von Spanien nach Marokko ist zu kurz zum Umdenken. Stand man eben noch in einer spanischen Kleinstadt nahe der Costa del Sol, steht man plötzlich am Hafen von Tanger zwischen aufgeregten Taxifahrern, Hafenarbeitern und Touristenfängern. Von da aus zieht es einen ins orientalische Stadtzentrum: Frauen in weit fließenden Dschellabas, Tabak kauende Männer in überfüllten Cafés, Webspindeln, die zwischen den Hauswänden aufgespannt werden, und die Rufe der Muezzins, die durch die Straßen hallen. Zwischen Spanien und Marokko liegt mehr als ein Meer.

Oder vielleicht doch nicht? Abends im Chellah Beach Club sieht die Welt schon wieder etwas anders aus. Vor schönstem Strandpanorama steht dort ein ungewöhnliches Duo auf einer kleinen Bühne. Der ältere Mann in Kordhose und T-Shirt stützt sich auf ein Standmikrofon, ein jüngerer sitzt in Jeans und Pullover am E-Piano. Lässig gehen die Cole-Porter-Standards den beiden von der Hand und ins Mikro. Monsieur Abdel Wahab gibt einen überzeugenden Sinatra, während Sohn Jassin die Tasten seines Yamaha-Klaviers streichelt. Und während „You’re the top“ angenehm leicht durch den Raum plätschert, konsumiert die Jeunesse Dorée am Tresen verbotene Getränke und Substanzen: „Willkommen in Tanger – dem Arsch Afrikas und dem Mund Europas“, sagt eine Frau an der Bar.

Tochter Salima Abdel Wahab trinkt sich für ihren Auftritt mit ihrer Familie warm. Ihr Bruder Jassin ist der Besitzer des Chellah Beach Clubs, sie selbst ist als Designerin international bekannt, und ihre Mutter leitet eines der größten Hotels der Stadt. Den Kindern mit ihren dunklen Locken und dem olivefarbenen Teint nimmt man die marokkanische Herkunft gerade noch ab. Bei den Eltern aber lassen die deutsch-marokkanischen Wurzeln des Vaters und die spanisch-marokkanische Herkunft der Mutter schon keine eindeutigen Schlüsse mehr zu. Die vier wirken wie das Ergebnis eines lustigen Gen-Roulettes. Und stehen damit exemplarisch für eine Stadt, die sich wieder einmal im Umbruch befindet.

Tanger, das ist dieser merkwürdig verwinkelte und mit kleinen Gässchen durchzogene Ort zwischen Europa und Afrika, den der Schriftsteller Paul Bowles einst als „prototypische Traumsequenz“ beschrieb. Ein kleines Stück vom Traum ist geblieben, und mysteriös ist die Stadt zwischen den Kontinenten auch heute noch. Noch immer lungern verhuschte Drogendealer an den Kaimauern des Hafens herum. Noch immer machen hübsche Jungs Versprechen, die sich nur im Zwielicht einlösen lassen. Und noch immer erklären marokkanische und europäische Intellektuelle in den Cafés am Place de France die Welt über einem Thé à la menthe.

Nur hat diese Welt nicht mehr viel mit der von Paul Bowles und den Beatpoeten zu tun. Im legendären Café de Paris werden schon lange keine Geheimdienstinformationen mehr ausgetauscht. Auch treiben sich keine subversiven journalistischen Elemente mehr hier herum. Nur die Einrichtung sieht noch aus wie damals, als die ersten Ausgaben der nationalistischen Zeitung La Voix du Maroc in den dunklen Ecken des Cafés geplant wurden oder als am Nebentisch die nationalistische Partei Istiqlal gegründet wurde, die übrigens heute noch im Parlament vertreten ist.

Die Barbara Huttons, Malcolm Forbes und Elizabeth Taylors sind längst verschwunden. In den späten Fünfzigern wurde alles anders. Die internationale Zone wurde kurz nach der Unabhängigkeit des Landes „aufgelöst“, und mit ihr ging auch der Boheme-Flair unter. Bis auf Paul Bowles blieb – von einem kurzen Boheme-Revival in den Siebzigern abgesehen – keiner der wilden Ausländer, die Tanger in jenen Ort von Glanz, Glamour und Abgründen verwandelt hatten, von dem heute noch so oft und gerne gesprochen wird.

Doch seit kurzem wird der Mythos Tanger wieder mit neuen Träumen genährt. Plötzlich interessiert sich sogar der junge König Mohammed VI. für Tanger. Das Königreich will sein „Tor zu Europa“ auf Vordermann bringen, und dafür braucht es ein neues Image und zahlungskräftige westliche Touristen. So wurde der Grand Socco, einer der zentralen Plätze der Stadt, kürzlich generalüberholt, der neue Mittelmeerhafen MedPort ist mit einer Milliarde Dollar das kostspieligste Investitionsprojekt seit langem, und der alte Hafen ist als Spielplatz für millionenschwere Jachtbesitzer vorgesehen. Die ersten neuen Hotels sind fertig. Auch Restaurants, ein Spielkasino und Diskos, die sich an der Strandpromenade reihen. Die ersten Neugierigen flanieren durch die jüngst angelegte Fußgängerzone, während das Gras in den neu begrünten Parks der Stadt sprießt.

Das neue Make-up ist aufgelegt, aber noch scheint die hastig überschminkte Stadt ein wenig desorientiert. Zu viele schlechte Erinnerungen hängen über Tanger, das sich noch immer in der Schwebe zwischen nostalgischen Reminiszenzen an die Beatpoeten und Albträumen von der späteren repressiven Ära unter Hassan II. befindet. Die ambivalente Geschichte ist nur noch Nostalgie, während die Zukunftsvision noch nicht sehr deutlich ist. Zwar möchte man der Stadt wieder einen internationalen Stempel aufdrücken und ein freundlicheres Image verpassen, aber man weiß noch nicht recht, wie. Wie soll es auch klappen, wenn sich die meisten Einwohner trotz neuester Arbeitsplatzversprechen und etlichen Verschönerungsmaßnahmen der Städteplaner doch nach drüben, nach Europa sehnen? Nur durch die Villen einiger westlicher Künstler und Intellektueller (Yves St. Laurent und Bernard-Henri Lévy kauften erst Häuser in Tanger) lässt sich die Stadt nicht wieder weißwaschen.

Viele der marokkanischen Künstler und Intellektuellen wissen das und bleiben dennoch. Der junge Filmemacher Nabil Ayouch etwa beschreibt die soziale Realität Tangers seit ein paar Jahren in Filmen wie „Mektoub“ oder „Une Minute de Soleil en Moins“ (Zwielicht in Tanger). Mit seinen Filmen erklärt er dem marokkanischen, aber auch dem westlichen Publikum, dass Pornografie, Prostitution und Korruption – ständige Begleiter der Stadt seit Jahrzehnten – noch immer aktuell sind. Auch Salima Abdel Wahab versucht sich mit ihrer Mode als Vermittlerin zwischen Orient und Okzident. „Die Europäerinnen, die meine Sachen kaufen, bemerken oft zum ersten Mal, dass auch eine arabischstämmige Frau moderne Kleidung entwerfen kann. Die Marokkanerinnen hingegen sehen, dass es Kleider gibt, die aufregend sein können und die religiöse Eiferer trotzdem nicht gleich vor den Kopf stoßen“, erklärt sie. Ihr verwegener Mix verkauft sich ausgesprochen gut im Westen, aber ihre Boutique, die Schaltzentrale ihrer Arbeit, liegt nach wie vor in Tanger.

Natürlich können sich Künstler und Designer wie Ayouch oder Abdel Wahab die Rosinen aus dem west-östlichen Kuchen herauspicken. Aber sie sorgen eben auch dafür, dass gewisse Missstände überhaupt verhandelt werden. Sie nutzen ihre Erfahrungen in In- und Ausland als Chance, und vor allem die binationale Familienprägung vermittelt vielen ein Verständnis von der Anziehung beider Welten – der orientalischen und der westlichen. Können also diese jungen Marokkaner dem noch leicht gesichtslosen Tanger wieder etwas internationales Flair einhauchen?

Kann schon sein“ meint Mohammed Dschadidi. „Die Frage ist nur, wie viel wir anderen Marokkaner wirklich davon haben. Aus der vergangenen ‚internationalen‘ Zeit ist uns ja auch nicht viel geblieben.“ Dschadidi blickt auf einen Spielzeugsoldaten, der zu einer Sammlung von unschätzbarem Wert gehört. Eine Sammlung, die der Ölmagnat und Partykönig Malcolm Forbes einst der Stadt hinterließ. Unglücklicherweise befand sie sich in einem Haus, das seit ein paar Jahren wieder im Besitz der Königsfamilie und damit der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich ist. „Immerhin konnten wir einen kleinen Teil retten, der jetzt bei ‚uns‘ steht“, erklärt Dschadidi, der als Tourguide im amerikanischen Kulturinstitut, der American Legation, arbeitet. „Diese Plätze haben früher uns allen gehört. Die Gärten in Marschan, der Palast, die Sammlung, all dies war bis vor ein paar Jahren noch für alle zugänglich.“

Die sozialen Schichten driften immer weiter auseinander. Das zeigt sich nicht zuletzt an den unterschiedlichen Chancen, das Land zu verlassen. Wenn Malika Embarek Heimweh nach der Familie hat, steigt sie in ein Flugzeug und fliegt nach Tanger. Und wenn sie von den Abdel Wahabs genug hat, fliegt Salimas Tante wieder zurück nach Spanien. Dort übersetzt sie dann die Bücher ihres Schriftstellerfreunds Tahar Ben Jelloun oder trifft sich mit Juan Goytisolo, wenn der gerade auf Heimaturlaub ist. Die Bücher ihrer Freunde kreisen immer wieder um ein zentrales Thema: die Emigration. Ein Thema, das auch sie bewegt, für sie allerdings keine ernsthafte Problematik darstellt, denn sie kann jederzeit zwischen dem Wohnort in Südspanien und der marokkanischen Heimat hin- und herpendeln.

Mohammed Dschadidi könnte das auch, er will nur nicht. „Die Touristen kommen hierher, wann es ihnen beliebt, um vor Paul Bowles’ ehemaliger Haustür ihren Fantasien nachzujagen. Und ich soll das endlose und entwürdigende Prozedere der Visumbeantragung über mich ergehen lassen? Nein danke“, erklärt er in fließendem Englisch. „Das ist eine bewusste Entscheidung, andere haben schließlich noch nicht einmal die Wahl, Tanger überhaupt zu verlassen.“ Und eigentlich will Dschadidi ja auch gar nicht weg, denn auch er glaubt an eine mögliche Renaissance der Stadt. Deshalb leuchten ihm auch die Modernisierungspläne des Königs ein: „Die von der Regierung angeordneten Schönheitsoperationen werden sicher helfen. Irgendwo muss man mit den Veränderungen ja anfangen.“

Angefangen hat die Welle der Erneuerungen schon vor ein paar Jahren. Als Repressionen nicht mehr zum Alltag gehörten und man zumindest begann, gegen die Korruption anzugehen. Als allmählich eine Atmosphäre entstand, in der die Designerin Salima Abdel Wahab ihre extravagante Mode verkaufen konnte. Und in der Nabil Ayouch Filme drehen durfte, die noch ein paar Jahre zuvor undenkbar gewesen wären. Vieles davon ist dem jungen König Mohammed VI. zu verdanken. Er war es, der sein Volk schließlich davon überzeugte, dass es sich lohnt, in die Modernisierung zu investieren. „Dennoch wird es noch einige Jahre dauern, bis die Stadt ihre Balance wiedergefunden hat. Aber dann könnte es so weit sein“, meint Salima Abdel Wahab. Sie wird das Ihrige dazu tun.

ELISABETH WELLERSHAUS, Jahrgang 1974, lebt und arbeitet als Kulturjournalistin in Berlin