die taz vor gut zehn Jahren über 68 und die neuen Studentenproteste
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Wo immer in den vergangenen Wochen Studenten streikten, besorgten sie sich Videos aus 68er Zeiten, und das nicht nur, um sich gegen die Zumutungen eines Vorbilds abzugrenzen. Irgend etwas ist da noch klärungsbedürftig. Denn 68 war ja nicht nur die letzte Blüte eines Zeitalters, das mit idealistischem Protest und dogmatischen Nachgeburten zu Ende ging. Es begann auch etwas Neues: das Zeitalter der Autodidakten und der Selbstdenker. (…)

Wollten die 68er mit aller Radikalität an ihre Wurzeln und sehnten sich die Zwischengenerationen der 70er und 80er Jahre danach, Wurzeln zu schlagen, so haben die Heutigen ein gewagteres Experiment begonnen: ohne Wurzeln zu leben. (…) Seit 1968 waren die Generationen „On the road to nowhere“, wie die Talking Heads sangen, Utopia, das Land Nirgendwo, ihr Ziel. Aber wenn immer möglich, ließen sie sich zu bürgerlicher Existenz nieder, sei es in freier Praxis oder auf einer Stelle, auf die der Marsch durch die Institutionen sie führte. So blieb von der Utopie nur das Gejammer. Aus APO wurde Apokalypse. „Ich suchte mein Heil in der Utopie und fand ein bißchen Trost in der Apokalypse“, schrieb der Schriftsteller Emile Cioran.

Der Pragmatismus, den mancher 68er am neuen Protest der Studenten belächelt, könnte die Rückkehr vom apokalyptisch entstellten Land Nirgendwo erleichtern. Allerdings müßte sich der Pragmatismus mit dem Sinn für Ideen paaren. Das ist ja wohl eine deutsche Krankheit, daß sich das Land in pragmatische Pragmatiker und utopische Utopisten teilt. (…) Für die Rückkehr aus Nirgendwo werden bedeutsame Orte gebraucht. Universitäten und Schulen zu solchen Orten zu kultivieren, darauf kommt es nun an.

Die von vielen verbliebenen 68ern eingenommene Stellung des Wissenden, der auf die Welt wie ein Gott von außen blickt, ist so erschöpft wie die Dynamik des Autoritätskonflikts, aus der sich der Protest einst speiste.Reinhard Kahl, taz vom 5. 1. 1998