Ein Zahnrad greift ins andere

Die „Phaenomenale“ inszeniert im Wolfsburger Science-Center Phaeno Mensch und Maschine als Traumpaar. Wie Maschinen dem Mensch über den Kopf wachsen, zeigt zeitgleich der Wolfsburger Kunstverein

VON ANNEDORE BEELTE

Der schakalköpfige Gott Anubis konnte Tote zum Leben erwecken. Er setzte den zerstückelten Götterkollegen Osiris wieder zusammen, balsamierte ein und wickelte in Mullbinden, was von ihm übrig war. Die Kunst des Mumifizierens war geboren – wenn sie auch bei menschlichen Probanden weniger überzeugende Ergebnisse lieferte als unter Göttern.

Es bleibt rätselhaft, warum der britische Automatenbauer Paul Spooner seine erste Serie von hölzernen Wunderkästchen, die derzeit im Wolfsburger Science-Center Phaeno zu sehen sind, dem ägyptischen Gott der Totenriten widmete. Vielleicht war es ja die Fähigkeit, toter Materie Leben einzuhauchen, die ihn faszinierte. Beim Drehen einer Kurbel setzen sich im Inneren der Kästchen Wellen und Zahnräder in Bewegung und lassen die Holzmarionetten auf dem Deckel eine absurde Geschichte erzählen. Da jongliert der Schakalgott mit gefüllten Kaffeetassen oder besucht eine Holzpüppchen-Version von Manets Olympia, um ihr mit zittrigen Händen ein Glas „Essenz der ewigen Wachheit“ zu servieren. Ein an die Skulptur vom „Kamelsimulator“ geklebter Zettel enthüllt die Anekdote, die dann doch viel zu kompliziert und durchgeknallt ist, um sie mit mechanischen Holzfigürchen nachzuerzählen: Desperado-Einbalsamierer überschwemmten den altägyptischen Markt mit ihrem Service, der den Kunden gerade mal so lange frisch hielt, bis sein Scheck eingelöst war. Dann schwang sich der schakalköpfige Tunichtgut aufs Kamel und trat in die Flanken. Auf dem Kamelsimulator sieht man davon bloß, wie es ihn beim Fluchttraining durchschüttelt. Drei Höcker-Hüpfer kicken seinen Holz-Hintern in die Höhe, bis sich der Kamelhals majestätisch aufbäumt. Sieht aus wie harmloses Holzspielzeug, führt aber dem Eingeweihten die Basics der Ingenieurskunst vor Augen: „So eine Welle ist auch die Basis des Motors“, jubelt ein Besucher, der sich offenbar auskennt.

Das Wolfsburger Phaeno lädt zum zweiten Mal zur „Phaenomenale“. Das „Science and Art Festival“ steht diesmal unter dem Motto „Dinge in Bewegung“. Fand Sigmund Freud es noch unheimlich, wenn Mechanisches eine Eigendynamik entwickelt und lebendig erscheint, so sind die Ausstellungsmacher überzeugt, dass das beim heutigen Menschen eher warme Gefühle auslöst. Da ist die Argumentation ganz schnell beim Sponsor Volkswagen angelangt, der vom anderen Ufer des Mittellandkanals herüber grüßt: „Dieses Phänomen ist einer der Gründe dafür, warum Personen eine besonders affektive Beziehung zum Automobil besitzen“, tönt das Veranstaltungsprogramm.

Die mechanischen Geschichtenerzähler im Phaeno sind mal albern, mal hintersinnig, aber (fast) immer prima Familienunterhaltung. In einer traumartigen Performance schaffen die bewegten Skulpturen des Sharmanka Theater zu Folk-Musik und Lichteffekten eine russisch-keltische, an die Bilder von Marc Chagall erinnernde Märchenwelt. Political Correctness allerdings ist nicht die Stärke der russischen, in Glasgow arbeitenden Künstlergruppe. So berührt es schon seltsam, wenn jüdische Künstler zur Satire auf ihre Glaubensbrüder und -schwestern ansetzen, die die Ähnlichkeit mit Karikaturen aus dem Stürmer schwer leugnen kann.

Den Technik-Unkundigen, der rätselt, wie das alles funktioniert, lassen die Ausstellungsmacher allerdings stehen wie den Ochsen vorm Berg. Es ist das alte Science-Center-Problem: Wann ist der richtige Moment, mit den Erklärungen aufzuhören? Bevor es öde wird, bevor man mit Formeln, Zahlen, Gesetzen langweilen muss. Das Geheimnis von Arthur Gansons „Radio Press“, die in zwei Wochen langer Mikrometerarbeit ein Radio zermatscht, lüftet netterweise eine andere Installation des amerikanischen Künstlers, die in der Dauerausstellung des Phaeno zu sehen ist: Hier greift ein Zahnrad ins andere, die Kraft wird immer weiter gedrosselt und die Bewegung so verlangsamt, dass das letzte Zahnrad getrost in Beton eingegossen werden kann. Es würde eh Billionen Jahre dauern, bis es sich bewegt.

Wer aber Aufregenderes will als Holzkästchen, deren Kurbeln man über einen Knopf an der Vitrine fernsteuern muss, wird beim Wolfsburger Kunstverein fündig, der im Turmgemach des Wolfsburger Schlosses ein Maschinen-Inferno zeigt: Rotierende Taschenlampen leuchten dem Nichtsahnenden ins Gesicht, dazu scheppert Chopin, es stinkt bestialisch nach Abgasen, und eine Waschmaschine dreht im Schleudergang durch. Die Musik kommt von einem alten Mercedes-Motor (Ätsch, Nachbar VW!), der zum Plattenspieler umfunktioniert ist. Ist der Tank leer, eilt die Aufseherin mit dem Benzinkanister herbei. „Diesel?“, fragt einer der umstehenden Lederjackenträger interessiert. Die ältere Dame schüttelt den Kopf: „Ich tanke Super!“ Das Monstrum heult wieder auf, eine Kohlendioxid-Wolke flutet den Raum, und die Aufseherin entfernt ladylike mit Zewa-Wisch-und-Weg die Spuren.

Die ultimative Jungs-Attraktion allerdings ist ein Ritt auf der Rodeo-Vespa. Bloß schade, dass man das Kreissägen-Automobil nicht in Bewegung setzen darf. Das sei nun wirklich zu gefährlich, meint die Aufseherin.

Ausstellungen zur „Phaenomenale“: „Phantasie-Mechanik“, Phaeno Wolfsburg, bis 29. Juni. „Merkwürdige Maschinen“, Kunstverein Wolfsburg (Schloss), bis 20. April.