Wenn Fremdsein zur Kunst wird

Tante Nerry schickt ein Video aus Hongkong: Mit Grenzen und der Frage danach, wie man sie überschreiten kann, setzt sich die Ausstellung „Global Alien: Congress of Culture“ im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien auseinander

VON JESSICA ZELLER

Als Tourist überschreitet man in der Regel Grenzen, um die Attraktionen fremder Länder zu bewundern. Orte, die zu gefährlich sind, um in sie zu reisen, sieht man als Krisengebiete nur im Fernsehen. Dabei spielen ihre schönen Seiten kaum eine Rolle. Wann erfährt man schon etwas darüber, welche Sehenswürdigkeiten und kulturellen Angebote etwa Bagdad oder Gaza-Stadt zu bieten haben?

Der israelische Künstler Mushon Zer-Aviv hat sich diese Frage gestellt. In seiner Arbeit „You are not here“, die im Rahmen der Ausstellung „Global Alien: Congress of Culture“ im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien zu sehen ist, hat er Stadtrundgänge entwickelt, die den Besucher zum „meta-tourist“ werden lassen. Denn der markierte Stadtplan, mit dem der Künstler die Bewohner New Yorks und Tel Avivs durch die Straßen ihres Wohnorts schickt, verbirgt darunter eine zweite Stadt: Bagdad bzw. Gaza. An den Stationen, an denen die Besucher haltmachen und eine Nummer wählen, hören sie dann per Telefon Informationen über den jeweils anderen Ort. Der Zoo von Bagdad beherberge besonders viele exotische Tiere, sagt eine sonore Männerstimme mit US-amerikanischer Aussprache. Die Fischrestaurants am Strand von Gaza seien nicht nur lecker, sondern auch billig, erzählt eine freundliche Frau mit arabischem Akzent. Fast schon beiläufig erfährt man, was dem sorgenfreien Genuss entgegensteht – der Verzehr der Zoo-Tiere von Bagdad durch die hungernde Bevölkerung etwa oder das benachbarte Flüchtlingslager.

„Die Touren sollen vor allem Spaß machen und erst im zweiten Schritt zum Nachdenken anregen. Kommt man gleich mit Verantwortung und gar Schuld daher, schalten die meisten Leute sofort ab“, sagt Zer-Aviv über seine Herangehensweise. Das hat er mit vielen anderen Arbeiten der Ausstellung „Global Alien: Congress of Culture“ im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien gemeinsam: Sie verfolgen einen spielerischen Ansatz, obwohl ihre Themen mit politischen Konflikten aufgeladen sind. Young-Joo Cho etwa lädt die Besucher zu einem Konversations-Englischkurs ein. Man sitzt auf einer Bank und eine Lautsprecherstimme fordert auf, zu diskutieren, ob Geld alles auf der Welt sei und Kinder so früh wie möglich arbeiten sollten. Thorbjørn Reuter Christiansen und Jakob Schaible haben einen originellen transparenten Plastik-Iglu entworfen, über dessen Wände Video-Bilder von Grenzposten und Kontrollen gleiten.

Die internationale Kuratorengruppe Global Alien, die sich aus einem Dutzend KünsterInnen und TheoretikerInnen zusammensetzt, will die Mechanismen der Globalisierung vor allem in Bezug auf Migration kritisch hinterfragen. Als „Aliens“ verstehen sie als fremd wahrgenommene Menschen, die nicht in den ihnen zugewiesenen Grenzen bleiben wollen, sondern ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen. „Ich war 1996 als Soldat an der innerkoreanischen Grenze stationiert“, erzählt einer der Kuratoren, der koreanische Künstler Jae-Hyun Yoo. „Dort passiert eigentlich gar nichts, denn zwischen den Posten beider Länder liegen Stacheldrahtzaun und acht Kilometer Minenfeld. Einmal hat ein Nordkoreaner es dennoch geschafft, diese tödlichen Hindernisse zu überwinden, und erreichte atemlos unseren Posten. Von diesem Punkt an wollte ich wissen, was Grenzen eigentlich sind“, bringt er seine eigene Motivation auf den Punkt.

Seine eigene Arbeit „Insel“ ist ein Modell, das die geografische Form Berlins aufnimmt, aber die landschaftliche Struktur und die Grenzverläufe der Halbinsel Koreas nachzeichnet. Lichter blinken in dieser Form jeweils dort, wo die deutsche Hauptstadt eine Grenze hat: zwar keine politische wie früher, wohl aber eine soziale, zum Beispiel bei besonders gravierenden Einkommensunterschieden.

Besonders gelungen ist in der Ausstellung Lizza May Davids Video „Looking Inwards – Perspectives on Filipino Diaspora“ vielleicht gerade deshalb, weil der Film von einer Migrantin und nicht einer Künstlerin gedreht wurde. Denn als David ihre Tante, eine philippinische Hausangestellte in Hongkong, bei ihrer Arbeit filmen wollte, lehnte diese zunächst ab. Aber ein halbes Jahr später sandte sie der Nichte unaufgefordert ein Tape mit Aufnahmen zu, die sie selbst von sich und ihrer Tätigkeit gemacht hatte und nun zur Veröffentlichung freigab. Einzige Bedingung: Die Familie ihres „Master“ müsse rausgeschnitten werden. Ein Vorgang mit weit reichender Bedeutung. Denn plötzlich sind es nicht mehr die Wohnungseigentümer, die stolz ihren Besitz zeigen, sondern die Bedienstete. Tante Nerry, eben noch in einem 16-stündigen Arbeitstag unterdrückt, wird zur Protagonistin und Regisseurin ihres eigenen Lebens. Zwar haben sich die sozialen Umstände ihres Daseins nicht geändert, wohl aber der Blick auf die Migrantin als stummes Opfer. Damit wird die Filipina ähnlich wie der nordkoreanische Flüchtling zum Symbol für die Existenz von Grenzen und der Möglichkeit, sie zu überschreiten.

„Global Alien: Congress of Culture“, bis 27. April, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2, täglich 12–19 Uhr. Infos: www.globalalien.net