ACHSE DER AVANTGARDE – CHRISTOPH WAGNER
Aktualität der Avantgarde

Bei seinem Versuch die Stille zu kontrollieren, war Morton Feldman Anfang der Siebzigerjahre noch zu ganz anderen Lösungen gelangt. Seine vierteilige Komposition „The Viola in My Life“ von 1970 ist strukturell weit konventioneller angelegt als seine späteren Arbeiten. Zum einen ist sie gerade mal 38 Minuten lang. Und zum anderen herrscht hier keine Gleichwertigkeit der Stimmen vor, sondern die Bratsche inszeniert als Solisteninstrument das Drama der Melodie.

Ihre Töne, kompetent von Marek Konstantynowiez in Szene gesetzt, beginnen sich zunächst nur zaghaft in die Leere vorzutasten, unterlegt von dunklen Pianoclustern, um dann mehr und mehr an Selbstbewusstsein zu gewinnen, umrahmt von sachten Tupfern des Orchesters.

Wenn eine Popgruppe wie Low heute Langsamkeit und Stille zu ihrem Markenzeichen erhebt, ist wohl niemand anderes als Morton Feldman die Quelle der Inspiration. Obwohl schon längst tot, hat die alte Avantgarde offenbar nichts an Aktualität eingebüßt – ganz im Gegenteil. Vielleicht wirkt ihr Einfluss sogar in der aktuellen Popmusik am nachhaltigsten fort.

Marek Konstantynowiez, Cikada Ensemble, Norwegian Radio Orchestra (Dirigent: Christian Eggen): Morton Feldman – The Viola in My Life 1–4 (ECM)

Marathonläufer der Avantgarde

Ähnlich bahnbrechend wie John Cage war die Wirkung, die sein enger Freund Morton Feldman hatte. Zusammen mit Earl Brown und Christian Wolff bildeten sie die sogenannte New York School, eine Komponistengruppe, von der revolutionäre Impulse ausgingen. Während Cage der spielerische Experimentator war, entwickelte sich Feldman zum Marathonläufer der Avantgarde.

Im Konzept der langen Dauer besitzt sein Werk Berührungspunkte mit indischer Musik. Eine Raga-Improvisation kann Stunden dauern, ebenso ein Stück von Feldmann. Die Einspielung der Mammutkomposition „For Philip Guston“ von 1984 erstreckt sich über vier CDs und kennt weder Unterbrechungen noch Zäsuren.

Damit enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Denn auf der Ausdrucksebene erscheint Feldmans Komposition als das genaue Gegenteil indischer Klänge, die auf ekstatische Verzückung zielen. Die Musik seines Spätwerks, er verstarb 1987, wirkt in ihrer Gleichförmigkeit fast statisch. Ebenmäßigkeit und Poesie heißen die Bauelemente seiner Architektur. Statt sich dramatisch zu steigern, schreiten die Klänge gleichförmig und völlig unaufgeregt voran. Nach einiger Zeit beginnt das feingliedrige Tongebilde, kunstvoll aus Haltetönen konstruiert, seine hypnotische Magie zu entfalten.

Breuer, Engler, Schrammel: Morton Feldman „For Philip Guston“. 4-CD-Box (Wergo)

Vokalstil der Avantgarde

Moderne Identitäten können komplex sein. Amelia Cuni ist eine italienische Vokalistin, die in Berlin lebt, aber indische Musik macht. Im klassischen Dhrupad-Gesang hat sie es zu einer solchen Virtuosität gebracht, die selbst in Indien respektiert wird.

Den indischen Gesang zu meistern, bedeutete nicht nur, einen völlig fremdartigen Vokalstil zu erlernen, sondern sich auch in eine gänzlich andere Musikkultur einzufinden. Der Nachteil schlug in einen Vorteil um, als Cuni begann, Neues in die Tradition einzubringen, was sich indische Musiker nie trauen würden. Für sie ist die Überlieferung unantastbar.

Dagegen gehört Innovation im Westen zum Handwerkszeug der Avantgarde. Das „Song Book“ von John Cage (1912–1992) bot Amelia Cuni die Möglichkeit, beide Elemente zu verbinden. Das Werk enthält unter anderem 18 indische Ragas, deren Interpretationen so offen gehalten sind, dass sie den kreativen Geist nicht ersticken, sondern stimulieren.

Eingebettet in ein feingliedriges Klangdesign aus Elektronik und Perkussion trägt Cuni die Melodien mit expressivem Gestus vor. Ihre Stimme setzt sie so einfühlsam ein, dass sie die feinsten Stimmungsregungen der Ragas zum Ausdruck bringt. Gelegentlich werden ihre Worte elektronisch vervielfacht. Dann verdichtet sich ihr Gesang zu einem babylonischen Stimmengewirr.

CD: Amelia Cuni „John Cage – 18 Microtonal Ragas“ (Other Minds)