Aus Wegsehen Einschreiten machen

Die Bewegung des „Theaters der Unterdrückten“ ist von Lateinamerika nach Europa geschwappt. Bei einem Workshop in Bremen versorgte der kolumbianische Theaterpädagoge Hector Aristizabal die Teilnehmer mit Gegengiften gegen ihren inneren Unterdrücker

Eine guckt durch ein imaginäres Fernrohr. Einer fährt Fahrrad. Eine zittert wie auf Entzug. In der Mitte der Bühne: ein leerer Raum. „Unglaublich“, sagt Hector Aristizabal. Eigentlich interpretiere er die Bilder ja nicht, die die Teilnehmer seiner Workshops entwickeln. Es gebe kein richtig oder falsch, jeder finde seine eigene Antwort. Aber so ganz kann er es sich doch nicht verkneifen: „Überall in Europa und Nordamerika sieht das Bild so aus: keine Kommunikation, jeder ist mit sich selbst beschäftigt, die Mitte bleibt leer.“ In Indien oder Afrika dagegen, sagt der kolumbianische Psychotherapeut und Theaterpädagoge, könnten die Mitspieler gar nicht genug Körperkontakt haben.

Bremen als Maschine darzustellen war die Aufgabe: mit einer einfachen, sich wiederholenden Geste ausdrücken, was die Stadt für einen ausmacht. Aristizabal geht auf die vier zu, die sich als „Bremer Stadtmusikanten“ aufgetürmt haben. Vielleicht könne die Mythologie weiterhelfen, schlägt er vor. Die Stadtmusikanten sollen ihre Geschichte weiterspinnen. Und siehe da: Sie besprechen krähend, bellend und miauend ihre Pläne – Kommunikation entsteht. Der junge Mann im Zuschauerraum ist nicht überzeugt. „Stupid Story“, grummelt er. Aristizabal lässt das stehen. Jedem seine eigene Antwort.

Das „Theater der Unterdrückten“ entstand in den 1960er Jahren in Brasilien. Situationen von Unterdrückung und Leid nachzuspielen, ist das Prinzip, sie aber im Prozess zu verändern: Welchen anderen Ausgänge sind möglich? Begründer Augusto Boal hatte nicht nur die Befreiungsbewegungen Lateinamerikas im Blick. Die Menschen der angeblich so freien Gesellschaften, argumentierte er, trügen ihren Unterdrücker eben in sich selbst.

In Europa ist die Anhängerschaft dieser theaterpädagogischen Methode überschaubar, doch bestens vernetzt: Zum einwöchigen Workshop bei Hector Aristizabal waren Gäste von Graz bis Barcelona nach Bremen gereist. Aristizabal arbeitet auf der ganzen Welt: mit Folteropfern und Kriegstraumatisierten, mit Sozialarbeitern und katholischen Nonnen. Sein Rezept sind „Gegengifte“, das Ausprobieren gegensätzlicher Rollen: Für die Folteropfer hat er einen „Healing Club“ gegründet. Mit professionellen Gutmenschen dagegen spielt er Verhör: Als Ermittler sollen sie Informationen aus einem vermeintlichen Gefangenen herausholen. „In fast allen Fällen verwandeln sich ganz normale Menschen in Folterer. Kaum jemand versucht einen anderen Weg.“

Aristizabal weiß, wovon er spricht. In den 80er Jahren hat er selbst Haft und Folter erlebt. Sein Bruder wurde von Militärs getötet, ihm selbst gelang die Flucht in die USA. In seiner Performance „Nightwind“ erzählt er davon – mit Stimme, Körper, Mimik und einer Hand voll Requisiten. Danach sollen sich die „Zuschauspieler“ dazu positionieren. Mit dem Körper eine Reaktion ausdrücken. Ein Gegengift kreieren: Aus Wegsehen wird Einschreiten, aus Ohnmacht Aktion. Impulse aus einer unvorstellbar anderen Erfahrungswelt? Aristizabal schaut nach draußen, auf die Duisburger Fans, die nach dem Spiel gegen Werder von einem martialischen Polizeiaufgebot zum Bahnhof eskortiert werden. „Und ihr behauptet“, fragt er dann, „ihr hättet keine Probleme?“ ANNEDORE BEELTE