Fetzen der Erinnerung

Erinnerungslandschaften aus Textil schafft die israelische Künstlerin Varda Getzow. Im Haus am Kleistpark ist ihre weiche Skulptur „Mapal“ neben einer Arbeit Liane Birnbergs zu sehen. Ein Fotoalbum lässt die Geschichte ihrer Eltern aufleben

VON ESTHER DISCHEREIT

„Mapal“ nennt die israelische Künstlerin Varda Getzow ihre Arbeit – „Wasserfall“, aber auch „Schutt“. Im Hebräischen klingt beides an. Dieser „Wasserfall“ oder „Geröllhaufen“ aus Stoff ist einem 3 auf 4 Meter hohen Digitalprint gegenübergestellt: Dort ist Petra in Jordanien zu sehen – es gehört zu den Weltwundern dieser Erde. Ein Reiter, ein Pferd. Unbezwingbare Mauern.

Getzow spielt hier an auf den Mythos vom Roten Felsen. Im Israel der 50er-Jahre fielen ihm immer wieder junge Männer zum Opfer, die ausgezogen waren, im Feindesland Helden zu sein, die nicht zurückkehrten und deren Körper nicht gefunden wurden.

Die Erinnerung daran findet sich als Anspielung auf das dortige Wasser- und Geröllbett in dem Material selbst wieder, das im Ausstellungsraum des „Hauses am Kleistpark“ in Fetzen aufgeworfen herumsteht: eine akkumulierte, amorphe „Geröllmasse“ aus 2.000 Fetzen. Es sind Teile zerrissener Strumpfhosen. Die materielle Zerstörung ist es, die an die Toten der Lager erinnert – so auch in der vorangegangenen Getzow-Arbeit „Midron“ – „Abhang“, die unlängst in der Kunsthalle Vierseithof, Luckenwalde, gezeigt wurde: ein „Abhang“ inmitten lichter Ebenheit.

„Mapal“ und die Arbeit „Tal“ – zu Deutsch: „Tau“ – im „Haus am Kleistpark“ berühren dasselbe Naturelement, gleichwohl ist die Realisation mit grauen und weißen Handtüchern vollständig anders ausgeführt. Getzows zu einem Monument aufgeworfene Handtücher strahlen eine weiße Stummheit ab, hinter der der Tallit verschwunden ist, jenes Tuch, das sich jüdische Männer zum Gebet umlegen. Ohne Fransen, die symbolisiert hätten, dass es ein Lebender ist, der es trägt und der noch etwas zu erfüllen hätte. Stattdessen gibt es an dieser Stelle ein Serienhandtuch, ein nicht gezeichnetes Stück wie aus dem Hotel oder einem Krankenhaus. Die Rollen sind das einzig sichtbar gebliebene Möbeldetail, nurmehr ein Zitat des Gewesenen.

Ein flüchtiger Abdruck

Diese Gebrauchsstücke, dazu gedacht, den Körper zu umhüllen, die Haut zu schützen, werden fabrikmäßig verwandt, ohne individuelle Zuschreibung. Die Waren sind Masse, Fabrikation und legen mit ihrer Nähe zu der gewöhnlichen Nutzung den Faden aus zu dem- oder derjenigen, der eine Strumpfhose anzieht oder auszieht, sich wäscht oder sich waschen und abtrocknen wird. Die Materie selbst scheint es zu sein, die in ihrer Erinnerungslastigkeit an die Gewaltsamkeit des Todes anknüpft. Es will sich keine Patina vom Weggehen oder Weggegangensein einstellen. Die künstlerische Bearbeitung ist damit beschäftigt, Erinnerungsfragmente aufzubewahren und unter den Dingen zu erfühlen.

Es ist der flüchtig gewordene Abdruck des da gewesenen Menschen, den Varda Getzow immer wieder festhält, sehr eindrücklich auch in der Arbeit „Baby Bonnet Roma“ von 2004. Die Dinge sind es, die als Ausweis oder Beleg der menschlichen „Natur“ erscheinen. Gehören sie zu „Landschaft“ oder zu „Menschheit“? Diese Zustände verschieben sich ineinander; die einzelnen „Schichtungen“ werden archäologisch freigelegt.

Der jüdische Raum

Werke wie die der in Berlin und Tel Aviv lebenden Varda Getzow lassen sich einem Raum zurechnen, den die Historikerin und europäisch-jüdische Schriftstellerin Diana Pinto aus Paris „the Jewish Space“ nennt. Sie meint damit einen komplexen Raum ethischer, kultureller und sozialer Bezüge, der sich aus Werten des Judentums speist und sich transnational definiert. Ein Raum also, der nicht rückbezüglich als Identitätsressource, sondern universell gedacht wird, als Ort der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.

In der Ausstellung „Schichtung“ ebenfalls vertreten ist die in Rumänien geborene, in Berlin lebende Künstlerin Liane Birnberg. Erstmalig verlässt sie ihren bis dato abstrakt bestimmten und fragilen Raum der Malerei und erzählt mit Hilfe eines hinterlassenen Fotoalbums eine Geschichte der Eltern, von der sie erst nach ihrem 45. Lebensjahr erfuhr. Ihre Kindheit war durch die traumatischen Erlebnisse der Eltern in den Konzentrationslagern Transnistriens gezeichnet, von der fortbestehenden Tabuisierung alles Jüdischen durch das antisemitisch geprägte Umfeld in Rumänien und von dem verordneten Schweigen der Eltern. In den hinterlassenen Fotos trifft sie auf Dokumente glückhafter Augenblicke: der Tata, jiddisch: Vater, mit Lederhosen und Kippa, die Mutter mit Kopftuch, tanzend. Ein entrückt wirkendes, bearbeitetes Foto, als beide noch in der Bukowina lebten. Später wird der Vater das erste Kollektiv der Kürschner gründen und sich als atheistisch gewordener Jude und Kommunist bezeichnen.

Textausschnitte dokumentieren die Verzweiflung der Kinder, für die solche Fotos „irreal“, außerhalb ihres Alltagslebens, mit den „abwesend gewordenen“ Eltern waren. Andere Kinder des jüdischen Viertels in Bukarest, mit denen Birnberg aufwuchs, beteiligten sich. Liane Birnbergs Arbeit ist Teil einer sich in den letzten Jahren, vor allem in Israel Ausdruck verschaffenden Bewegung, die die Leiden der Kinder der Überlebenden – der zweiten Generation nach der Schoah – erstmalig sichtbar machte.

Neben Getzows „Mapal“ und Birnbergs „Niedriges Podest“ werden die Videos „Shadow“ von Varda Getzow und „Werkstatt“ von Renate Sami sowie Barbara Kaspers Toninstallation „Wer war Oscar Geier?“ präsentiert. 6. April bis 18. Mai 2008. Grunewaldstr. 6–7; Di.–So. 11 bis 19 Uhr