Ödipus am USB-Port

Liebe deinen Avatar wie dich selbst: Der französische Schriftsteller Alain Monnier hat mit „Unser zweites Leben“ einen Roman über die Parallelgesellschaft im Netz geschrieben

VON KOLJA MENSING

Elf Millionen Menschen sind bei „Second Life“ registriert, rund 60.000 Benutzer sollen ständig eingeloggt sein. Mit „Unser zweites Leben“ ist diese Parallelgesellschaft im Netz jetzt zum ersten Mal Gegenstand eines Romans geworden, auch wenn der französische Schriftsteller Alain Monnier die Handlung in die nahe Zukunft verlegt hat: „Umweltzerstörung und Klimawandel“ haben in seinem postapokalyptischen Szenario weltweit zu einer Massenflucht ins Internet geführt.

Sechs Milliarden Menschen haben mit Hilfe eines freien Netzzugangs und eines garantierten Mindesteinkommens ihren Lebensmittelpunkt in die virtuellen Räume einer Online-3D-Simulation verlegt. Auf überdimensionierten Bildschirmen verfolgen sie in ihren ärmlichen Wohnungen am Rand der verseuchten Großstädte die Bewegungen der jugendlichen Avatare, lassen sie Cocktailpartys besuchen oder durch die Malls der „Commercial MegaCity“ bummeln. Vor allem stürzen sich die digitalen Doppelgänger allerdings in Affären und Abenteuer, und dann ist „Unser zweites Leben“ auch nicht mehr ganz jugendfrei: Alain Monnier beschreibt zum Beispiel recht detailliert den Einsatz von ferngesteuerten USB-Vibratoren, die derzeit in einigen Online-Communitys bereits das Sexspielzeug erster Wahl ist.

Wer also mehr über die körperliche Liebe im Zeitalter des Internets wissen will, wird in diesem Roman gut bedient. Wichtiger als der unmittelbare Lustgewinn ist den Avataren in Monniers „Second Life“-Version jedoch die Aufmerksamkeit der anderen Benutzer, die während der filmreifen Fickszenen auf der virtuellen Bettkante sitzen. „Es befriedigt nun mal das Ego, betrachtet zu werden, beneidet, begehrt“, erklärt Isidro, der im wirklich Leben ein alter, kranker Mann ist und im Netz den professionellen Aufreißer macht: „Da spürt man die eigene Existenz.“ Also hat er gerade erst vor 300.000 zugeschalteten Fans ein freizügiges Liebesspiel mit einem Avatar im Gewand der Jungfrau von Orléans arrangiert – und seinen geldwerten „Sympathiefaktor“ damit ordentlich in die Höhe getrieben. Auch das ist durchaus realistisch und zeitgemäß: In sozialen Netzwerken wie MySpace oder Facebook entscheidet die Zahl der virtuellen Freunde nun einmal über alles.

Dann lernt Isidro Eva kennen, die gerade erst ihr Dasein als übergewichtige, frustrierte Mittfünfzigerin gegen die Identität einer jungen Frau getauscht hat und ihm als „newbie“ einen neuen Blick auf das digitale Leben eröffnet. Erfahrener Liebhaber erliegt dem Charme eines naives Mädchen und wandelt sich zum besseren Menschen: Alain Monnier verwendet hier offenbar ganz bewusst ein triviales Erzählmuster, genau wie er an anderen Stellen seines episodenhaften Romans die großen Stoffe der Weltliteratur zitiert. Unter anderem wird ein griechischer Avatar mit implantiertem „Schicksals“-Algorithmus mit dem digitalen Alter Ego seiner eigenen Mutter verkuppelt. Ödipus lässt grüßen.

Dahinter steckt Methode. Monnier bedient sich bei Groschenheften, Bildungsromanen und klassischen Dramen und probiert das traditionelle literarische Material in der neuen Lebenswelt aus. Das Ergebnis dieses Experiments ist ziemlich ernüchternd. Seine Geschichten wirken genauso künstlich wie die gepixelten Gesichtszüge der Avatare, und darum geht es ihm wohl auch – um das Scheitern der Literatur angesichts der digitalen Wirklichkeit. „Unsere zweite Welt“ führt den Beweis, dass die Menschheit mit ihrem Wechsel in Paralleluniversum wie „Second Life“ Räume betritt, in denen die alten Geschichten keinen Wert mehr haben. Warum soll man Tragödien schreiben, wenn sich das Schicksal einer Figur durch eine Korrektur im Programmcode ändern lässt?

„Unser zweites Leben“ ist also kein Roman über das neue Leben im Netz geworden, sondern ein weiterer Abgesang auf die alte Welt. Auf den ersten Roman, der auf Augenhöhe mit dem Alltag im Netz ist, wartet man darum jetzt umso gespannter. Vielleicht muss ihn ein Avatar schreiben.

Alain Monnier: „Unser zweites Leben“. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Ullstein, Berlin 2008, 322 Seiten, 19,90 Euro