Weg des Mitgefühls

In seinem weisen und humorvollen Buch „Freud lesen in Goa“ erweist sich der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar wieder einmal als ein wunderbarer Wanderer zwischen den Welten

Sudhir Kakars Bücher zu lesen, bedeutet immer eine große Freude. Seine Mischung aus Wissen, Humor und Weisheit ist so selten wie sein sowohl schriftstellerischer und zugleich psychoanalytischer Zugang zur Welt.

In Goa liest man gemeinhin auch keinen Freud – sondern vielleicht eher Krisnamurti Muktananda oder gar Osho, formerly known as Bhagwan Shree Rajneesh. Ihm widmet Sudhir Kakar, der in Goa lebt und dort auch Freud liest, sein erstes Kapitel: Die Kindheit eines politisch inkorrekten Gurus. Das ist sehr interessant zu lesen, vor allem für diejenigen unter uns, die zwar jede Menge Sanyasin kannten, aber mit dem Meister selbst nicht allzu viel am Hut hatten.

Kakar verhehlt nicht seine Anerkennung für den, wie er sagt „vielleicht bekanntesten und mit Sicherheit berüchtigten Guru des indischen spirituellen Marktes“ – für ihn ist er der Pionier der globalisierten Spiritualisierung. Schließlich waren seine Anhänger nicht nur im Westen genauso zahlreich wie in Indien – seine Lehre war auch nicht mehr so rein indisch wie die seiner Vorgänger, die manch westlichen Intellektuellen fasziniert hatten. Das Phänomen Bhagwan war sein Eklektizismus, mit dem er sich schnell und intelligent bei allen Lehren dieser Welt bediente. Dass sich sein wohl unbestrittenes Charisma aus einem kindlichen Trauma und einem ungewöhnlichen starken Narzissmus speiste, beschreibt Kakar nicht mit Häme, sondern dem interessiert verständnisvollen Blick des Therapeuten.

Die Indienreisen der 1970er Jahre und das Phänomen der Sanyasin-Bewegung müssen als Beginn des ausgesprochenen westlichen Bedürfnisses nach einer nichtkonfessionellen Spiritualität, aber auch dem Wunsch nach einer romantischen Weltsicht verstanden werden. Wie Kakar in seinem Vorwort betont, fand diese Wiederbelebung einer solchen Weltsicht nur im Westen statt, denn in nichtwestlichen Gesellschaften hatte sie nie die Vorherrschaft über alle rationalistischen Erkenntnisse hinaus verloren. Jüngste Entwicklungen in der sozialen Neurowissenschaft und der evolutionären Psychologie zeigten, dass heute wieder mehr Gewicht auf die altruistischen Eigenschaften gelegt werde, dass es nicht mehr nur um den selbstzentrierten Wolf im Menschen gehe. Vielmehr bewiesen die ansteigende Spendenwilligkeit, die vielen NGOs und Bürgerinitiativen, dass es dem Menschen um mehr als sein eigenes Wohlergehen gehe.

Dieses Bedürfnis nach dem Nichtrationalen hat sich zweifellos im Westen im Zuge der 68er Bewegung in einem liberalisierten Verhältnis zur Sexualität gezeigt. Kakar führt in seinen beiden Kapiteln über das Heilige und das Begehren sehr schön durch den Dschungel von Gier und Scham, Ekstase und innerer Stille. Schon in seinen Romanen hat er sich mit „verrückten Heiligen“ ihren Verführungen durch körperliche Lust und der weiter anhaltenden Sehnsucht nach höheren Weihen beschäftigt.

Nach einem kleinen Ausflug zu den unterschiedlichen Umgehensweisen der buddhistischen Schulen mit diesem Thema kommt er mit Mahatma Gandhi zur Kunst der „praktischen Spiritualität“. Kaum ein Politiker konnte so viele Eigenschaften in sich versammeln: konservativ, religiös, asketisch, und romantisch, sozialistisch, tolerant, aktivistisch und mystisch und vor allem von großer Empathie getragen. Diese Empathie ist es ja auch, die den guten Therapeuten vom schlechten, lediglich kühl Analysierenden unterscheidet, wie schon Paulus in seinem Brief an die Korinther über die Liebe wusste.

Kakar ist ein wunderbarer Wanderer zwischen den Welten. Mit kenntnisreichem Ernst und heiterer Leichtigkeit wirbt er für eine Öffnung der traditionell misstrauischen freudianischen Gemeinde gegenüber jeglicher Spiritualität, da ja doch ihrer Meinung nach die Psychoanalyse selbst genug meditativen Raum bietet. Er plädiert für einen Weg der offenen Aufmerksamkeit und des Mitgefühls – universelle Werte, auf die man sich sowohl hüben wie drüben einigen kann. Sein Buch ist eine höchst anregende und ermutigende Station auf diesem Weg. RENÉE ZUCKER

Sudhir Kakar: „Freud lesen in Goa. Spiritualität in einer aufgeklärten Welt“, aus dem Englischen von Katharina Kakar, C. H. Beck, München 2008, 180 Seiten, 19,90 Euro