Das vergessene Jubiläum

Vor 20 Jahren wurde der Begriff „Weltmusik“ erfunden, um Musikstilen aus aller Welt den Weg zu einem urbanen Publikum zu ebnen. Daraus wurde einer der wichtigsten Trends der letzten Dekaden

Als Madonna beim „Live-Earth“-Spektakel im vergangenen Juli auf die Bühne des Wembley-Stadions trat, hatte sie eine Überraschung mitgebracht: Der ukrainischstämmige Gitarrist Eugene Hütz und ein bärtiger Geiger von der New Yorker „Gipsy-Punk“-Band Gogol Bordello kamen mit ihr, um ihren Hit „La Isla Bonita“ in eine wilde Balkanserenade zu verwandeln. Es war einer dieser Momente, die noch Wochen später auf YouTube Furore machen und mit hunderten von Kommentaren bedacht werden. Er zeigte, dass Madonna die Zeichen der Zeit zu lesen vermag. Denn Balkanmusik liegt derzeit fraglos im Trend.

Wenn jemand heute wissen will, wo er mehr Musik von Gogol Bordello und verwandten Kapellen finden kann, braucht er nur in den nächsten Plattenladen zu gehen und in der Weltmusik-Abteilung im Osteuropa-Regal zu stöbern: Dort wird er fündig. Das war nicht immer so einfach. Denn der Begriff wurde erst vor rund zwanzig Jahren erfunden, um Musikstilen aus aller Welt den Weg in die Plattenläden zu bahnen. Aus diesem Grund trafen sich 1987 in einem Pub in London eine Handvoll Konzertveranstalter, Musikjournalisten und Labelchefs: Sie suchten einen Begriff, der es ihnen erleichtern sollte, so unterschiedliche Dinge wie bulgarische Frauenchöre, Soukous-Musik aus dem Kongo oder Dangdut-Pop aus Indonesien unter die Leute zu bringen. So kam das Wort von der „Weltmusik“ in die Welt.

Dieser Sammelbegriff ist immer umstritten gewesen, selbst ein Szenepapst wie David Byrne hadert mit ihm. Doch die Schublade hat sich als ungemein praktisch erwiesen, um ganz unterschiedliche Musikstile zu popularisieren. Wer hätte gedacht, dass portugiesischer Fado und kubanischer Son, aber auch Blasmusik vom Balkan oder Afrobeat aus Nigeria plötzlich wieder so ein Comeback erleben, von DJs in den Mixer geworfen und weltweit ein neues, urbanes Publikum finden würden? In ihren jeweiligen Heimatländern waren sie schließlich schon abgeschrieben, galten als angestaubt und hoffnungslos altmodisch.

Eigentlich gäbe es deshalb etwas zu feiern: Zwanzig Jahre Weltmusik, das ist eine Erfolgsgeschichte. Nicht nur, weil lokale Stars wie Cesaria Evora, Youssou N’Dour oder der Buena Vista Social Club dadurch international Karriere gemacht haben. Oder, weil inzwischen jede Metropole ihre Tango-, Salsa- oder Balkanszene hat. Sondern auch, weil aus der urbanen Vermischung der Genres ständig neue Hybride entstehen; Elektro-Tango, Flamenco-Funk, Afro-House, Latin-Hiphop, Orient-Pop, Mestizo-Rock oder eben Gipsy-Punk, um nur einige zu nennen.

Die Entdeckung lokaler Popstile, das Revival und Recycling traditioneller Musiken sowie die lokale Adaption globaler Musiktrends, das war – neben der Ausdifferenzierung elektronischer Musik in ihre diversen Spielarten – vielleicht die wichtigste Bewegung, die die musikalische Entwicklung der letzten Dekaden geprägt hat. Offenbar gibt es ein Bedürfnis nach Geschichte, Tradition und, ja, auch Exotik – auch das Revival des Roots-Reggae muss man in diesem Zusammenhang sehen. Im Rückgriff auf die musikalische Vielfalt der Welt und „exotische“ Moden der Vergangenheit dürfte – neben der weiteren technologischen Entwicklung – deshalb auch der Schlüssel zu den musikalischen Trends der Zukunft liegen.

Einen Vorgeschmack auf diese Entwicklung gab es vor zwanzig Jahren. Damals, 1988, stürmte eine Sängerin aus Israel namens Ofra Haza mit der Popversion eines jemenitischen Volkslieds an die Spitze der Charts, und der Lambada aus Brasilien avancierte für eine Saison zum Modetanz. Es folgte ein Griot-Sänger aus Mali namens Mory Kanté, dessen technoid aufgepumptes „Yeké Yeké“ zu einer frühen Ravehymne aufstieg: auch so ein Hybrid, bei dem elektronische Innovation und die Rückbesinnung auf das Erbe afrikanischer Griots Hand in Hand gingen. Pop ist eben ein gefräßiges Monster, das sich alles einverleibt, was es in die Hände bekommt.

Dass die deutsche Musikpresse das runde Jubiläum verschlafen hat, ist allerdings symptomatisch: Was allzu sehr nach Weltmusik aussieht, wird geflissentlich ignoriert und fällt unter verschärften Folkloreverdacht.Auch im Radio und im Fernsehen sieht es, von ein paar Nischen abgesehen, nicht viel besser aus. Das liegt nicht nur am Fremdeln mit allem Fremden. Es liegt auch an der Segregation der Szenen, die in Deutschland besonders ausgeprägt ist. Ein Festival wie im dänischen Roskilde, wie das Sziget in Budapest oder praktisch alle Festivals in Frankreich, wo Rockbands und Hiphop-Acts einträchtig neben afrikanischen Musikern, Balkan-Trompetern oder Salsabands aufspielen, das gibt es hierzulande einfach nicht.

Doch allmählich kommt Bewegung in die Fronten. Der Trend zur Vermischung lässt sich schließlich nicht mehr ignorieren, wenn sich britische Musiker wie Damon Albarn oder Björk und US-Bands wie Vampire Weekend in Afrika nach Inspiration umsehen, eine Band wie Calexiko mit Mariachi-Trompetern antritt oder sich ein Indie-Held wie Beirut aus Balkan-Traditionals bedient. Oder eben Madonna den Zigeunertanz übt.

Klar, das hat mit der Globalisierung zu tun. Als Paul Simon in den Achtzigerjahren nach Südafrika fuhr, um dort sein „Graceland“-Album aufzunehmen, Peter Gabriel seinen Fans einen afrikanischen Freund namens Youssou N’Dour präsentierte oder David Byrne mit der Salsasängerin Celia Cruz im Duett sang, da ging es ihnen allen noch darum, diese Musik bekannter zu machen. David Byrne und Peter Gabriel gründeten zu diesem Zweck sogar eigene Plattenfirmen. Inzwischen hat sich die „Weltmusik“-Sparte etabliert, zugleich finden neue, hybride Musiktrends aus allen Ecken der Welt dank YouTube, MySpace & Co schnell weltweit ein wachsendes Nischenpublikum. Ob Reggaeton, Baile-Funk, japanischer Manga-Pop oder der Siegeszug des Bollywood-Kinos – die Tribalisierung der Szenen schreitet unaufhaltsam voran, und die Grenzen zwischen „hier“ und „dort“ verschwimmen. Von althergebrachten Vorstellungen von „Tradition“ und „Authentizität“ muss man sich da wohl verabschieden. Aber so gesehen, hat die Weltmusik nicht nur eine Vergangenheit. Sie hat auch noch eine glanzvolle Zukunft vor sich.

Ach ja, und Madonna? Sie wählte Eugene Hütz von Gogol Bordello als Hauptdarsteller für ihren Film „Filth and Wisdom“ – ihr Regiedebüt, das sie im Frühjahr schon mal auf der Berlinale vorstellte. Sie hätte ihn auch für ihr neues Album „Hard Candy“ engagieren sollen: Dann wäre es vielleicht etwas aufregender geraten als der matte R -’n’-B-Abklatsch, den sie mit Hilfe von Starproduzenten wie Timbaland und Pharell Williams sowie Justin Timberlake als Duettpartner abgeliefert hat. DANIEL BAX