Ganze Tage vorm Monitor

Eine Harvard-Studie adelt Computerspiele zur pädagogischen Notwendigkeit. Angeblich. In Wahrheit sagt Cheryl K. Olson das, was alle Kenner der Szene sagen: Schalten Sie ab, bevor Ihr Kind süchtig ist

VON CHRISTIAN FÜLLER

Ein Star ist geboren, und sie heißt Cheryl K. Olson. Die Szene der Computergamer jauchzt über die Forscherin und ihre wissenschaftliche Studie. Denn Olson weist, mit dem Efeu der ehrwürdigen Harvard Medical School umrankt, scheinbar eindeutig nach, woran niemand so recht glauben mag: dass das tägliche stundenlange Daddeln vor Egoshooter-Games die Jungs nicht etwa verhärten lässt, sondern glücklich macht. Ja, so die Kurz-Pointe Olsons im Spiegel-Online-Interview: „Heutzutage ist Nichtspielen ein Zeichen fehlender Sozialkompetenz.“

Zunächst mal ist das Interview, so wie es erschien, ein Zeichen fragwürdiger Medienkompetenz. Die Spiegel-Leute haben das Interview vom Gamer-Magazin Games Entertainment Education (GEE) mit dem schön einfachen Untertitel Love For Games übernommen. Logisch, dass ein solches Magazin die Ängste der Eltern und die begründete Kritik diverser Forscher, sagen wir, wegklickt.

Kein Wunder also, dass Frau Olson alle bisherigen Studien über Computerspieler als 15-minütige Quickies von Ahnungylosen abtun kann. „Die meisten Studien zum Thema sind Müll“, heißt die Sentenz bei GEE, und man muss keine Wissenschaftlerin zur Frau haben, um zu wissen: So etwas sagt kein Forscher, niemand erklärt seine Kollegen rundweg zu Idioten. Wäre in diesem Fall auch großer Quatsch, weil es mittlerweile zahllose Studien gibt, die sich a) entweder intensiv mit Gamern befassen oder b) eine wesentlich höhere Fallzahl als die 1.200 Probanden von Cheryl K. Olson auswerten. In englischsprachigen Interviews vergleicht Olsen sehr aufmerksam ihre Studie mit anderen. Aber das war dem GEE-Chefredakteur Heiko Gogolin, wie er der taz sagte, zu kompliziert für seine Leser.

Mit dem Bonmot „Egoshooter machen sozial kompetent“ jedenfalls lässt sich die Welt der Games schwerlich beschreiben. Wer in den jugendlichen Untergrund der modernen Gesellschaft schauen will, sollte sich die für Arte produzierten Filme von Lilly Grote („Stark fürs Leben“) und Heide Breitel („Spielzone“) anschauen. Schlicht beobachtend führen die AutorInnen die sich ausbreitenden Computersüchte vor. Sie zeigen die verarmenden menschlichen Beziehungen – und die elektronischen Welten, die sie zu ersetzen beginnen. Betroffen davon sind Kinder und Familien, die sich nicht zu wehren wissen.

Da bekommt man Angst. Angst nicht vor, aber um die Teenies, die Stunden vor ihren Computern verbringen, um in Kampf- und Traumwelten abzutauchen. Er habe, sagt einer, der in einer Suchtklinik für Computerspieler gelandet ist, ein Drittel seines jungen Lebens verspielt. In der Amsterdamer Suchtklinik von Keith Bakker zählen sie ganze Tage vor dem Computer zusammen, um ihre Klienten einzusortieren. 700 Tage heißt demnach: 700 komplett verspielte Tage à 24 Stunden, ganze Tage in die Bildschirme versunken.

„Was die Computerspielhersteller anbieten, ist eine Gemeinschaft für verrückte Leute“, sagt Keith Bakker.

Es ist tatsächlich das Gemeinschaftliche, was für die Kinder wichtig ist. Denn das Spielen wird erst dann richtig anziehend, wenn es online stattfindet, also zusammen mit anderen Gamern irgendwo draußen im WWW. Insofern hat Harvard-Forscherin Olson schon recht, wenn sie die Sozialkompetenz anspricht, die beim Gamen entsteht. Es ist freilich eine andere, als sie der gemeine Leser sie im Kopf hat.

Die schlimmsten Verführer freilich sind nicht die zu den Spieleherstellern übergelaufenen Nerds, die Sex, Gewalt und Macht in die Spiele programmieren, es sind die Eltern. Wer Mütter von Gamern in ihrer Hilflosigkeit gesehen hat, der ahnt: Die einen Familien können nichts verbieten, die anderen wollen es nicht. Es gibt kein Nein mehr oder es existiert kein familiärer Unterbau, der ein Nein wirkungsvoll machen könnte. Inzwischen entsteht so etwas wie ein Ersatznetzwerk für die versagenden oder desinteressierten Eltern. Sozialarbeiter, Theaterleute, Stuntmen, alle möglichen Projekte schaffen tatsächlich, was in den Erzählungen der Eltern völlig unmöglich erscheint: sich für einen jungen Menschen zu interessieren, ihm mit Respekt zu begegnen und mit herausfordernden Aufgaben zu fesseln. Und: Die Kids für ein Nein stark zu machen.

Das übrigens ist die Brücke, die zwischen Alarmisten und Gamer-freundlichen Forschern wie Cheryl K. Olson besteht. Die Tatsache, dass bestehende Sozialnetzwerke wie Familien mit den neuen technisch-sozialen Netzwerken umzugehen lernen. „Bitten Sie Ihr Kind“, sagt Olson in einem kritischeren Interview, „Ihnen etwas über das Spiel beizubringen – die meisten Kinder werden das gerne tun.“

Wenn aber das Kind wütend oder erregt nach dem Spielen sei oder jeden Tag Stunden damit zubringe, sagt sie, „reconsider your decision.“

Zu Deutsch: Schalten Sie ab.