Lichtblicke überall

Paradoxerweise höchst lebendig: Peter Rühmkorf vollbringt noch einmal eine Liebeserklärung an sein Dichterdasein und stimmt kraftvolle Abschiedsgesänge an

VON ALEXANDER CAMMANN

Noch einmal den schwindenden Kräften etwas abringen, noch einmal etwas vollenden, ehe es nicht mehr gelingen kann: Seit je kreisen angstbesetzte Künstlerträume um ihr ominöses Alterswerk. „Zeigen, daß Du bist. / Aber nicht bloß so, im seligen Erinnern, / sondern mit der Frechheit von Beginnern, / ab nach vorne, neues zeigen, / dir und mir und uns zu eigen / daß man diesen Lichtblick nicht sofort vergißt. // Los, ein Liebesbrief!“ So hört sich der Traum vom Alterswerk bei Peter Rühmkorf an – trotz aller Fatalismen ein dreistes Dennoch. Wer in seinem neuen Gedichtband, „Paradiesvogelschiß“, liest, wird überall auf Frechheit und Erinnern, zahlreiche Lichtblicke und Liebesbriefe stoßen. Rühmkorf zeigt, dass er ist – ein halbes Jahrhundert nach Veröffentlichung seines ersten Gedichtbands, „Irdisches Vergnügen in g“, im selben Verlag.

Dabei sind diese Gedichte alles andere als die Normalproduktion eines alternden Poeten: Rühmkorf, Jahrgang 1929, hat Krebs. Lange Zeit war unsicher, ob er einen Gedichtband würde fertigstellen können. Dass er es unter großen Anstrengungen vollbracht hat, ist ein Triumph, mit dem Rühmkorf dem Schnitter ein Schnippchen geschlagen hat: „Immer gut, etwas neues anzupacken. / Dann packt dich das Neue von selbst beim Nacken. / Grad heute mich wieder mal aufgerafft / und gleich ein Totentänzchen geschafft!“ Natürlich hat er den Sensenmann die ganze Zeit im Blick: „Dann kommt der Tod, der Allesfresser, Mensch oder Wurm, er weiß es nicht besser.“ Und ein frotzelnder „Grabspruch“ ist bereits gereimt: „Schaut nur nicht so bedeppert in diese Grube. / Nur immer rein in die gute Stube. / Paar Schaufeln Erde, und wir haben /ein Jammertal hinter uns zugegraben.“ Doch zunächst führt uns Reimer Rühmkorf mit diesem Band überraschenderweise in seine Dichterwerkstatt – Poetologie in gedichteter Form, ein Lyrik lehrendes Vermächtnis.

Denn zu Beginn offenbart die „Ballade von den geschenkten Blättern“, wie das so funktioniert in der poetischen Natur: Aus einem „Paradiesvogelschiß“ im Garten erwächst ein besonderer Baum, der den Besitzer zum späteren Nutzen reich beschenkt: „Weil auf jedem Blatt steht ein goldener Spruch / in privater Geheimschrift geschrieben.“ Flankiert von anschaulichen Typoskripten mit handschriftlichen Überarbeitungen Rühmkorfs, zeigt uns der Dichter im zweiten Teil seine Blättersammlung: Epigramme, Aphorismen, Eingebungen, Kalauer, Gedichte in Urform, allesamt bereits ausgereift klingend.

Am Ende steht dann ein Zyklus von 36 Gedichten, in denen manches aus der Blättersammlung in endgültiger Form wiederauftaucht: „Also – gut, Du willst den Dichter geben. / Praktisch von den eigenen Seufzern leben.“ Überschrieben mit „Rückblickend mein eigenes Leben …“, kreist dieser Zyklus um Altersmelancholie – oft in heroischer Komik und paradoxerweise höchst lebendig. Skepsis herrscht im ganzen Buch: „Mein immer präsentes Über-Ich / weiß auch nichts Erhebendes über mich“; manchmal hat auch der Dichter seinen schwarzen Humor verbraucht und „sinnt dem Salzgehalt verflossner Jugendtränen nach“. Seine Frau Eva bekommt ein liebendes Gedicht. Und er erinnert sich an Verflossene: „Sie war fürwahr kein Artefakt / von den klassizistisch geleckten. / Und trotzdem ein Typ, wo auch nach dem Akt / die Küsse noch schmeckten.“ Die Mädchen schauen jedoch längst anderen hinterher. „Ich klagte zu Recht in einem Gedicht: / Meine schöne Geliebte liebt mich nicht. / Da schrieben die Leserinnen zuhauf: Dann gib doch die blöde Geliebte auf.“

Es gibt ein „G.G. Geburtstagsmedaillon“; ein kleines Solidaritätsgedicht für Günter Grass. Öffentliche Dinge werden ansonsten nur am Rande vermerkt; George W. Bush, Josef Ackermann, Carl Schmitt, Reich-Ranicki und ein paar andere haben ihre lyrischen Kurzauftritte („Dies Gedicht für Nicole Kidman / könnt ich praktisch jeder widmen“). Noch einmal steht Rühmkorf vor den Gräbern seiner Hausgötter Brecht und Benn. Aber „Big Benn, der große Stabreimmediziner“ hätte auch so einiges „sehr mechanisch hinmaschint“.

Ein vollendeter Auftritt gelingt dem „Dichter mit dem Durchblick aufs Posthume“ immer dann, wenn er seine rührenden kraftvollen Abschiedsgesänge anstimmt. So im schönen Gedicht „Die letzten Stufen“: „Die wir uns von allem Angelernten / einfach mal entfernten“, denn „Kann doch sein, dass wir nach allem was gewesen / plötzlich merken, es war leider nur soso. / Und wir klappern hier mit unsern Pro- / So als wären es gewagte Anti-Thesen.“ Oder in seinem ergreifenden Klagelied „Hinter herabgelassenen Jalousien singen“: „Hoffnungen – ach-ade! – sie schlagen keine Brücken /Sie wühlen nur herauf, was du verfluchst. / Erinnerungen? – Stoff zum Dranersticken, / das ist der Flügel, / unter dem du Zuflucht suchst.“

Peter Rühmkorf hat quer durch alle Tonlagen noch einmal eine Liebeserklärung an sein Dichterdasein vollbracht. Verletzlich, zäh, empfindsam, präzise, mit schonungslos derbem Humor als Überlebenshilfe: Das Alterswerk ist gelungen. Der „Paradiesvogelschiß“ hat dabei noch einen tieferen Sinn. Denn auch Peter Rühmkorf ist ein Paradiesvogel: Aus dem, was er höchstselbst im Garten hinterlassen hat, wird etwas wachsen. Lesen wir also Rühmkorfs Blätter; seine „Botschaft an Kundschaft“, so heißt das letzte Gedicht, wird dann die Adressaten erreichen. Und die Rühmkorf-Kunden werden mit seinen letzten Versen weiterhin begeistert ausrufen: „Das isses! / Etwas relativ Sui-generisses.“

Peter Rühmkorf: „Paradiesvogelschiß“. Gedichte, Rowohlt, Reinbek 2008, 143 Seiten, 19,90 Euro