Abschiebeknast unter Palmen

Lampedusa lockt Touristen mit Traumstränden und ist gleichzeitig Zielort afrikanischer Flüchtlingsboote. Der Fotograf Marco Poloni erzählt in Braunschweig die paradoxen Geschichten der Mittelmeerinsel

In Polonis Lampedusa-Kosmos verknüpfen sich die Fotos zu Assoziationsketten, die über das eigentliche Motiv hinausweisen

VON TIM ACKERMANN

Das Mittelmeer. Für Touristen ist es eine schier unendliche Badewanne, für afrikanische Migranten eine schier unüberwindbare Barriere. Nirgends prallen diese zwei Sichtweisen so hart aufeinander wie auf Lampedusa. Die Mittelmeerinsel ist ein beliebtes Urlaubsziel und rühmt sich, einen der schönsten Strände Italiens zu besitzen. Sie markiert aber auch den südlichsten Punkt des italienischen Staatsgebiets – und ist daher seit Jahren das ersehnte Ziel zahlloser afrikanischer Flüchtlingsboote. Tausende sind bereits beim Versuch, das Meer zu überqueren, gestorben.

Marco Poloni stammt nicht von Lampedusa, aber er hat als Junge häufig die Ferien dort verbracht. Für seine Ausstellung „Displacement Island“, die jetzt im Museum für Photographie in Braunschweig zu sehen ist, ist er noch einmal auf die Insel zurückgekehrt. Der Schweizer Fotograf hat sich auf die Spuren der zwei Gruppen von Fremden begeben, die das Leben auf Lampedusa bestimmen: die Touristen und die Migranten.

Poloni hat Urlauber am Strand fotografiert und die Containerhäuser der Auffanglager. Er hat Flüchtlingsboote fotografiert, die von den Grenzpolizisten später an die einheimischen Fischer verkauft werden. Er hat eine weggeworfene Zigarettenpackung am Strand fotografiert – mit einer Aufschrift aus arabischen Lettern. Nur einen Flüchtling hat er nicht fotografiert: Das Bild des Opfers ist ihm im medialen Vollwaschgang allzu stumpf geworden.

Stattdessen vermischt Poloni in Braunschweig die eigenen Aufnahmen mit fremden Fotomaterial in einem frei über die Wände verteilten assoziativen Bilderreigen. Alte Schwarz-Weiß-Abbildungen, die Familie Poloni beim Baden zeigen, vermengen sich kommentarlos mit Satellitenaufnahmen der Insel und Standbildern aus neorealistischen Filmdramen wie Roberto Rossellinis „Stromboli“ und Michelangelo Antonionis „L’Avventura“. Wo hört hier die Realität auf, und wo beginnt die Fiktion? Durch das Zusammenspiel des heterogenen Bildmaterials entsteht eine topografische Annäherung an Lampedusa, die ihre eigene Problematik, ihre eigene Skepsis gleich miterzählt.

Den Betrachter führt Marco Poloni auf interpretativ wackeligen Grund. So viel Postmoderne mag mancher nicht erwartet haben im beschaulichen Braunschweig, sie passt allerdings gut ins Konzept von Maik Schlüter. Der Leiter des Museums für Photographie will das Profil dieser in Niedersachsen einzigartigen Institution neu ausrichten. „Ich möchte Fotografen zeigen, die in den Kunstkontext eingebunden sind“, erklärt er. „Die ihr Medium auch mal in Frage stellen.“

Der 36-Jährige ist im vergangenen Jahr von der Kestnergesellschaft Hannover nach Braunschweig gekommen und hat hier erstmal aufgeräumt. Die Nachlässe der regional bekannten Fotografen Käthe Buchler und Hans Steffens, die zur Sammlung des privaten Kunstvereins gehören, hat er dem Stadtarchiv zur Betreuung übergeben. Im Museum will er jetzt vor allem konzeptuell arbeitende Zeitgenossen zeigen, Tobias Zielony etwa oder Sven Johne. Modefotografen haben also schlechte Karten. Und auch um Blockbuster-Schauen, die es früher mit Edward Weston, Walker Evans oder der Fußballausstellung der Magnum-Fotografen schon mal gab, will er künftig einen Bogen machen. „Natürlich würden zu einer Helmut-Newton-Ausstellung viele Besucher kommen“, sagt Schlüter. „Allerdings wollen Menschen, die in eine solche Ausstellung gehen, nicht unbedingt über gesellschaftliche Zustände oder die Rolle der Fotografie aufgeklärt werden.“ Genau das zu tun sei aber der Anspruch, den er an sich und sein Haus stelle.

Die aktuelle Ausstellung illustriert dieses Vorhaben beispielhaft: In Polonis Lampedusa-Kosmos verknüpfen sich die Fotos über Bildanalogien zu Assoziationsketten, die über das eigentliche Motiv hinausweisen. Das Grün eines Priestergewandes findet sein Pendant im Lack eines „Alitalia“-Flugzeugs, das entweder Touristen auf die Insel oder Flüchtlinge davon weg bringt. Zum makabersten Bilderpaar der Ausstellung gehört die Aufnahme einer Hotelanlage mit einer Kunstpalme. Das Meer liegt im Abendrot, nur auf einem Berghang irritiert ein grelles Leuchten. Es sind, wie dann das zweite Foto erklärt, die Schweinwerfer, die dort das Abschiebegefängnis beleuchten. Und hinter dem Stacheldraht wachsen – man könnte es auch für eine zynische Bildmanipulation halten – echte Palmen.

Es sind Geschichten voller Paradoxa, die Poloni erzählt. Es sind Geschichten vom Gegensatz zwischen Arm und Reich, von Migration und dem Leben in einer globalisierten Welt, sagt Maik Schlüter. Es sei sehr wichtig, über diese Themen zu reden. Und zwar genau hier. Im beschaulichen Braunschweig.

Bis 20. Juli, Museum für Photographie Braunschweig