Zurück zur Natur

Von Vögeln das Fliegen zu lernen, schien der Moderne als Romantizismus. Das ist heute anders, wie die Ausstellung „Prototypen – Bionik und der Blick auf die Natur“ zeigt

Im ersten Stock des Max-Liebermann-Haus steht Knut. Ausgestopft und ausgewachsen. Ein stolzes Tier, elegant und, auch als Präparat, irgendwie erhaben. Eigentlich aber, eigentlich ist dieser große, weiße Bär nur Staffage. Denn das wirkliche Spektakel findet im Kleinen statt. Unter dem Mikroskop nämlich, unter dem sich einige Eisbärenhaare beobachten lassen.

Siehe da, die Haare sind innen hohl. Was dem Eisbären das Leben in der arktischen Kälte überhaupt erst ermöglicht. Die in den Haaren gespeicherte Luft dient als wärmende Isolationsschicht. Ein biologisches Prinzip, so das Mantra der Ausstellung „Prototypen – Bionik und der Blick auf die Natur“, aus dem sich technische Innovationen ableiten lassen. Aus Natur wird also Kultur, aus Biologie Technik – womit schon einmal die etymologische Herkunft des Begriffshybriden „Bionik“ geklärt wäre. Oder, um es mit einem der im positiven Sinne pointierten Ausstellungstexte zu sagen: „Das Grundprinzip der Evolution, das Charles Darwin vor 180 Jahren erstmals beschrieb, lässt sich heute mit Hilfe der Mathematik auf technische Aufgaben übertragen.“

Und aus Charles Darwin wird Niklas Luhmann, aus der Evolutions- wird eine Systemtheorie, die sich nichts weniger als die ganz großen Fragen stellt. „Wie entsteht Selbstorganisation?“ oder gar „Wie entstehen Lösungen?“ sind die einzelnen Kapitel der Ausstellung überschrieben. Die Antworten auf diese Fragen fallen dabei gleichermaßen technologiebegeistert wie esoterisch aus. Die fragile und doch so stabile Geometrie einer Bienenwabe, die haftenden Härchen an den Füßen einer Libelle, die radikal entindividualisierte Dynamik des Schwarms – nichts, was nicht Designer, Ingenieure oder, so sagt es die Ausstellung, Logistiker aus der Natur lernen könnten. Kaum etwas, das sich nicht umsetzen ließe, zum Nutzen unserer Design- und Dienstleistungsgesellschaft. Mercedes-Benz zum Beispiel hat gerade den Prototyp eines „Bionic Cars“ vorgestellt, dessen Karosserie sich am ausgewogenen Verhältnis aus Leichtigkeit und Stabilität des menschlichen Skeletts orientiert.

Letztlich bewegt sich die Ausstellung „Prototypen“ im Max-Liebermann-Haus in zwei Epochen: dem Zeitalter der Aufklärung, von der euphorischen Naturbegeisterung der Romantik bis zur Formierung der modernen Naturwissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. Und in der Jetztzeit, dem 21. Jahrhundert. Dazwischen lag die Moderne, jenes Zeitalter, in der der Mensch meinte, die Natur überwunden zu haben. Und in der Autos eben wie Autos entworfen worden sind.

Noch ein Beispiel: Wo die Prothesen der unmittelbaren Nachkriegsmoderne die Körperformen bei weitgehender motorischer Funktionslosigkeit imitierten – eine Hand, ein Bein oder ein Ohr –, steht im Max-Liebermann-Haus am Brandenburger Tor nun der Greifarm eines Industrieroboters, der sich gerade der Funktionsweise der menschlichen Anatomie bedient. Die Technologie dieser komplexen Apparatur orientiert sich an unseren Muskelsträngen. Zwei Vitrinen weiter steigt eine Originalausgabe von Otto Lilienthals „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegerkunst“ aus dem Jahr 1889 noch einmal in die Kulturgeschichte der Bionik hinab. Lilienthal war noch ein Ikarus, der fliegen wollte wie ein Vogel. Und der den Vögeln dafür ganz genau auf die Federn geschaut hat.

Zurück zur Natur also. Das klingt wie ein Jutebeutel-Slogan. Und ist, viele der vorgestellten zeitgenössischen Designs lesen sich als direkte Reaktion auf Klimawandel und Ressourcenverknappung, irgendwie auch so gemeint. Der Energiespeicher, der sich das eingangs erwähnte Eisbärenhaar zum Vorbild nimmt, oder der Flugzeug-Prototyp, dessen Gestalt sich wieder an den Flügeln der Vögel orientiert: Immer geht es um die Reduzierung von Reibungsverlusten, weniger Gewicht, weniger Luftwiderstand, weniger Energieverlust. Es geht darum, die Dinge und die Prozesse an die veränderten Rahmenbedingungen der Spätmoderne anzupassen.

Für den Gigantismus des Maschinenzeitalters, den Ingenieur als Weltenbauer, ist im Max-Liebermann-Haus kein Platz mehr. Stattdessen aber erzählt „Prototypen“ auch von der Dialektik eines Novalis, von einer romantischen Ästhetisierung der Natur und ihrer Schöpfungskraft. Naturwissenschaft und Naturpoesie, darum geht es. Und so kann man das ausgestellte Straußenei für seine ausgeklügelte Statik bewundern – oder eben schlicht als schönes Objekt. Unnötig zu erwähnen demnach, dass diese Ausstellung auch ein ästhetisches Vergnügen ist.

CLEMENS NIEDENTHAL

„Prototypen – Bionik und der Blick auf die Natur“. Bis zum 24. August im Max-Liebermann-Haus, Pariser Platz 7. Am 21. Juni Familientag von 11–17 Uhr