Bewegung fern vom Gipfel

Von Heiligendamm geblieben ist eine neue Protestkultur, die in diesem Jahr aber unabhängig vom G-8-Gipfel agiert

VON MALTE KREUTZFELDT
UND FELIX LEE

Satte 100.000 DemonstrantInnen haben die Organisatoren der G-8-Proteste im vergangenen Jahr rund um Heiligendamm erwartet. Gekommen sind zwar etwas weniger, doch die Bewegung zog nach der Großdemonstration in Rostock und den Massenblockaden rund um Heiligendamm eine euphorische Bilanz: Erfolgreich vernetzt, Agenda mitbestimmt, Gipfel blockiert.

Ein Jahr später sind die Erwartungen um eine Potenz geringer: Zum diesjährigen G-8-Gipfel, der am Montag auf der japanischen Insel Hokkaido beginnt, rechnen die Veranstalter mit maximal 10.000 GipfelgegnerInnen. Und selbst das halten manche für zu optimistisch – schließlich gibt es in Japan keine Tradition der Gipfelproteste (siehe unten). Aus Deutschland wird wohl nur rund ein Dutzend Aktivisten vor Ort sein. Neben einzelnen, die auf eigene Faust anreisen, sind es vor allem Vertreter von Organistionen wie Attac, Greenpeace oder Oxfam. Die geringe Beteiligung liegt außer an den eingeschränkten Protestmöglichkeiten vor allem an der teuren und aufwendigen Anreise – und ist nicht ungewöhnlich: „Zu Gipfeln außerhalb von Europa haben wir noch nie mobilisiert“, sagt etwa Attac-Sprecherin Frauke Distelrath.

Doch auch unabhängig vom bevorstehenden Gipfel stellt sich die Frage, was von der Euphorie und den hochfliegenden Erwartungen aus dem vergangenen Jahr geblieben ist. „Die Krise der Bewegung ist durch Heiligendamm nicht behoben worden“, sagt etwa Thomas Seibert, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Medico International. „Aber sie führt auch nicht zum Abschwung, sondern zu einer notwendigen Programm- und Strategiedebatte.“

Die Einschätzungen der praktischen Konsequenzen der G-8-Proteste gehen auseinander. „Bündnispolitisch hatte Heiligendamm keine nennenswerte positive Wirkung“, sagt Peter Wahl, Mitarbeiter der Organisation Weed und bis zum vergangenen Herbst zudem in zentraler Funktion bei Attac tätig. Der Gewaltausbruch am Rande der Großdemonstration in Rostock erschwere künftige Kooperationen zwischen Gewerkschaften und NGOs auf der einen und linksradikalen Gruppen auf der anderen Seite. Dass Wahl und andere Attac-Vertreter die Gewaltakte eindeutig verurteilten, kritisieren viele Autonome bis heute als „vorschnelle Distanzierung“.

Im Gegensatz zu diesem Streit sieht Christoph Kleine, der für die Gruppe „Interventionistische Linke“ zu den Demo-Organisatoren gehörte, seit Rostock eine „neue Kultur der Zusammenarbeit“, die durch die „unvermeidliche Auseinandersetzung“ nach der Demonstration entstanden sei. Auch der Protestforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin hat eine „Öffnung der Gesprächskultur zwischen sehr unterschiedlichen Akteuren“ beobachtet.

Einigkeit besteht über die positiven Nachwirkungen der Massenblockaden, mit denen über 10.000 Menschen zwei Tage lang die Zufahrtsstraßen nach Heiligendamm dicht gemacht hatten. „Von solchen intensiven Erlebnissen bleibt auf jeden Fall etwas hängen“, sagt der Protestforscher Rucht. „Wenn Menschen gute Erfahrungen mit zivilem Ungehorsam machen, sind sie bereit, sich bei anderer Gelegenheit wieder zu beteiligen.“ Ob das gelingt, kann sich beispielsweise beim 60. Geburtstag der Nato zeigen, der im kommenden Frühjahr in Straßburg und Kehl gefeiert werden soll. Ähnlich wie in Heiligendamm will ein Bündnis verschiedener linker Gruppen zu Blockaden aufrufen. Auch die deutsche Umweltbewegung will die Gipfel-Erfahrungen mit einem Klima-Aktionscamp im August in Hamburg aufgreifen.

Solche Aktionsformen wird es wohl brauchen, um die Protestierer aus Heiligendamm wieder zu aktivieren. Denn ein Großteil der 15.000 meist jungen Aktivisten aus den G-8-Camps gehörte keiner formalen Organisation an. Und das hat sich bis heute kaum geändert. „Es ist niemandem gelungen, diese Gruppe an sich zu binden“, stellt Protestforscher Rucht fest. „Sie setzen auf situatives Engagement ohne Verpflichtungen.“ Lediglich Attac hat seine Mitgliederzahl nach Heiligendamm um knapp 2.000 gesteigert und eine Jugendorganisation gegründet.

Spätestens im nächsten Jahr dürfte das Interesse der Globalisierungskritiker am G-8-Gipfel wieder zunehmen: Dann ist als Gastgeber wieder Italien an der Reihe. Erstmals seit Genua, das aufgrund der Massenproteste im Jahr 2001 als Geburtsstunde der Globalisierungskritik in Europa gilt. Und wieder mit einem Ministerpräsidenten namens Silvio Berlusconi.