Kurios durch die Krise

Belgiens Ministerpräsident Leterme hat seinen Rücktritt eingereicht. Und wieder ist das Land gespalten. Wie schafft es das kleine Königreich so konstant, sich selbst fremd zu bleiben?

VON ULRIKE HERMANN
UND NATALIE TENBERG

Wie fremd sich die Belgier untereinander sind, das zeigt sich in Extremsituationen. Es war drei Uhr nachts, und uns kam auf der Autobahn ein Geisterfahrer entgegen – zwischen Brüssel und Lüttich, Luik, Liège, oder wie man es nennen mag. Per Handy wollten wir einen Notruf absetzen und probierten es erst auf Niederländisch. Doch uns fiel das Wort für Geisterfahrer nicht ein, also wechselten wir ins Deutsche und versuchten dann eine Erklärung auf Französisch, denn man schien uns nicht zu verstehen. „Jetzt halten Sie sich an eine Sprache!“, wurden wir angefahren. Auch bei Gefahr müssen in Belgien offenbar die Amtssprachen sorgsam geschieden werden.

Entlang diesen Sprachgrenzen löst sich nun die belgische Regierung auf. Seit den Wahlen vor mehr als einem Jahr können sich Wallonen und Flamen nicht auf eine Staatsreform einigen. Niemand weiß, wie lange es Belgien noch geben wird. Trotzdem wirken die Bürger eher gleichgültig denn empört. Das mag auch daran liegen, dass sie sich gegenseitig gar nicht verstehen. Schon den Kindern wird vermittelt, dass die jeweils anderen Landessprachen nicht wichtig sind.

Eine Szene im flämischen Gent: Eine Mittelschule sucht neue Schüler und hat draußen vor der Eingangstür riesige Plakate aufgehängt. Auf Niederländisch wird der große Pluspunkt der Schule herausgestrichen: Auch Latein und Griechisch werden angeboten. Insgesamt sechs Stunden in der Woche können die Schüler auf diese klassischen Sprachen verwenden. Das ist bei Französisch nicht möglich, obwohl es die Muttersprache von rund vier Millionen Belgiern ist, die in Brüssel und in der Wallonie leben. Trotzdem sind für Französisch nur drei Stunden im Lehrplan vorgesehen. Der Schulleiter versteht die Verwunderung der deutschen Journalistin nicht: „Englisch gibt es doch auch nur drei Stunden.“ Damit ist alles gesagt: Für viele Flamen ist Französisch nur eine ganz normale Fremdsprache, die man im Zweifel eher nicht beherrscht. Selbst Latein kann wichtiger sein als diese zweite Landessprache.

Seine Mittelschule sei im übrigen keine Ausnahme, versichert der Leiter: „Auch alle anderen Schulen in Gent bieten keine Schwerpunktkurse für Französisch an.“ Sollte also eine französischsprachige Familie aus der Wallonie nach Gent umziehen, begäbe sie sich ins Sprachausland: Für die Kinder wäre es nirgends möglich, Unterricht in ihrer Muttersprache zu erhalten.

Aber nicht nur die Flamen ignorieren die zweite Landessprache; umgekehrt interessieren sich auch die Wallonen nicht für ihre Mitbewohner im Norden. Die staatlichen Gymnasien in Charleroi, zum Beispiel, bieten nur zwei Stunden Niederländisch pro Woche an. Damit ist das Fach so unwichtig wie etwa Geografie.

Die Belgier machen sich gegenseitig zu Fremden – und verkehren immer häufiger auf Englisch miteinander. Auch bei Fußballspielen der Nationalmannschaft wird inzwischen auf Englisch skandiert.

Kein Wort fällt in Belgien so häufig wie der Begriff „Sprachgrenze“. Damit wird unterstellt, dass sich die Bürger sauber in Frankophone und Flämischsprachige teilen ließen. Doch diese saubere Ordnung versagt fast immer im Einzelfall – und niemand symbolisiert dies besser als der flämische Premierminister Yves Leterme, der nun seinen Rücktritt eingereicht hat. Schon der Name lässt es vermuten: Sein Vater war frankophon. Trotzdem stilisiert sich Leterme als der oberste Kämpfer für die flämischen Interessen und scheut sich auch nicht, die Wallonen zu beleidigen. Berühmt wurde ein Interview mit der französischen Zeitung Libération vom August 2006. Dort sagte Leterme, die Frankophonen seien „offenbar geistig nicht in der Lage, Niederländisch zu lernen“.

Zu den belgischen Besonderheiten gehört auch, dass das Desinteresse an den anderssprachigen Mitbürgern selbstgenügsam ist und sich nicht nach außen richtet. Keineswegs also würden sich die Flamen nun besonders für die Niederlande interessieren oder die Wallonen für Frankreich. Im Gegenteil. Die Niederländer: Das sind die Steuerflüchtlinge, die sich große, stillose Neubauhäuser in den Außenbezirken von Antwerpen errichtet haben.

Allerdings ist dieses Desinteresse beidseitig: Auch die Niederländer ignorieren ihre südlichen Nachbarn. Wie im übrigen Europa wird dort über Belgien berichtet, als sei es ein Kuriositätenkabinett: Wenn nicht gerade von einer Staatskrise zu melden ist, dann werden die Kameras dort am liebsten hingeschickt, um von einem Kinderschänder wie Marc Dutroux zu berichten.

Die Belgier selbst sind ebenfalls geneigt, ihr Land als kurios zu betrachten. Und gerade deswegen dürften sie auch die jetzige Krise überstehen.