Elektrisches Empfinden

Summsumm: Christina Kubischs „Electrical Walk“ macht in Bremen elektromagnetische Wellen hörbar. Alternative Wahrnehmungsgewohnheiten bieten auch ihre „Stromzeichnungen“ in der dortigen Kunsthalle

Es gibt Klänge, die Menschen nicht wahrnehmen können. Als vergangenes Jahr in den USA auf rätselhafte Weise bis zu 70 Prozent der Bienenvölker starben, führten das einige Forscher auf Störwellen zurück, für die der Mensch verantwortlich ist: Handy-, Radio- und WLAN-Strahlungen. Elektrosmog. Auch der ist für uns nicht sinnlich wahrnehmbar – es sei denn, Christina Kubisch ist in der Nähe.

Die Künstlerin und Musikerin, vor 60 Jahren in Bremen geboren, hat einen Magnet-Kopfhörer entwickelt, der elektromagnetische Wellen hörbar macht, genauer: die Stellen, an denen sie zusammenstoßen. Wer das klobige Gerät aufsetzt und spazieren geht, hört die Emissionen von Ampelanlagen, Bildschirmen, Geldautomaten und Lichtschranken. Brummende Bässe, fiepende Obertöne und an- und abschwellendes Rauschen summieren sich zu einer avantgardistischen Klangcollage. Den Beat besorgen die Schuhabsätze.

Kubisch hat in Bremen eine Route entwickelt – bereits die zweite in drei Jahren –, an deren Rändern besonders klangfreudige Wellen durch die Lüfte schweben. Der Proband muss sich nur darauf einlassen, einen leicht debilen öffentlichen Eindruck beim Hinlauschen und Kopfwenden abzugeben. Und er muss in die Kunsthalle gehen. Die verleiht die Kopfhörer gegen Pfand. Hier flankiert der Rundgang auch Kubischs aktuelle Ausstellung „Stromzeichnungen“, eine Retrospektive ihres Werks. Da Kubisch aber immer wieder Performances, Konzerte und Installationen zur Aufführung gebracht hat, werden vor allem Skizzen dazu ausgestellt – mithin die „einzige Möglichkeit einer Gesamtschau“, sagt Kurator Ingmar Lähnemann.

Da findet sich der Grundriss eines Mailänder Theaters samt Anordnung der Instrumente für eine Aufführung der „Zauberflöte“. Aber auch Kubischs erste Induktionsarbeit „Il respiro del mare“ (1981): zwei Kabelkreise an der Wand, zwischen denen der Betrachter hin und her geht. Ein magnetischer Kubus überträgt die elektromagnetischen Wellen der Kabel. Als Kubisch Ende der 90er Jahre ähnliche Arbeiten erneut in Angriff nahm, wunderte sie sich über die vielen neuen Störgeräusche.

Am deutlichsten wird Kubischs elektrisches Empfinden für Klangchoreografien dort, wo ihre frühen Avantgarde-Performances reproduziert werden, so gut es eben geht: Ein Film zeigt, wie fünf Fingerhüte an einer Hand rhythmisch gegeneinander klickern und die ganze Hand einen bizarren Tanz aufführt, bis die metallenen Fingerkuppen auf eine Querflöte niedergehen. Nicht im Film, dafür als Konzertanordnung zu Papier gebracht: die Manipulation eines Streichquartetts mit Hilfe von Vibratoren. „Ein Kind der 70er Jahre“, sagt Kubisch heute. Damals habe sie „gerne Dinge manipuliert oder kaputt gemacht – um sie neu zu erfinden“. Eine Reaktion auf ihre „strenge akademische Ausbildung“ sei das gewesen, und eine Hommage an den Komponisten John Cage, den Kubisch in New York kennen lernte. Den „Abschied von einer Karriere als Flötistin“ besiegelte sie, indem sie durch eine Gasmaske spielte – oder mit Kondom auf dem Mittelstück.

Solche Gags finden in zweieinhalb Ausstellungsräumen nur als Skizzen Platz. Ihr Reiz liegt mehr im Konzept als in der Verwirklichung. Wie eine Schatzsuche ohne Vorstellung vom Gold – aber mit neuer Karte. ROBERT BEST

bis 5. 10., Kunsthalle Bremen