Der Profi aus der Turnhalle

Als Kind, in Kasachstan, hielt er alles hoch in die Luft, was schwer war. Heute erzieht Johann Martin den Nachwuchs aus seiner Hamburger Nachbarschaft: in Gewichtheben und in Sozialverhalten

von JESSICA RICCÒ

Eine Turnhalle in Hamburg-Barmbek. Es riecht nach Gummimatten und kaltem Kinderschweiß-Kreide-Gemisch von den Händen der Zöglinge Johann Martins. Hier trainiert der 61-Jährige drei Mal in der Woche Jugendliche aus den umliegenden Stadtteilen. An der Wand: ein großflächiges Alpenpanorama. „Guten Tag, ich bin Dima“, grüßt der erste junge Sportler. „Guten Tag, ich bin Harut“, sagt ein weiterer „Guten Tag, ich bin Andrej.“ Etwa 15 Jungs strecken hintereinander die Hand aus und stellen sich vor. Sehr höflich. „Das“, sagt einer, „hat Herr Martin uns beigebracht.“

Herr Martin bringt ihnen außerdem bei, wie sie Gewichte in die Luft wuppen – Hanteln, fast doppelt so schwer wie die Jungs selbst. Beeindruckend, aber eigentlich nicht mehr zeitgemäß. Wurde doch der Körperbau, sagen wir der einstigen Wrestling-Größe Undertaker oder auch von Mr. T längst durch athletischere Schönheitsideale ersetzt. Und überhaupt: Wir hatten doch gerade die EM – wieso martern sich diese Jungs lieber in einer muffigen Turnhalle, als draußen zu kicken?

„Gewichtheben trainiert viel ganzheitlicher als andere Sportarten“, sagt Johann Martin. „Es übt in Kraft und Schnelligkeit, die braucht man ja für jede beliebige Sportart.“ Er muss es wissen, trainierte er neben seinen Jungs schließlich auch schon die Footballspieler der Hamburg Blue Devils, die Rugbymannschaft des FC St. Pauli und sogar die Olympia-Schwimmerin Sandra Völker. Johann Martin hat all das dokumentiert: In einem Ordner hat er dutzende Zeitungsartikel gesammelt, in denen sein Name als Geheimtipp unter Trainern erwähnt wird. Dass Sandra Völker Franziska van Almsicks Rekorde brach, sei ihm zu verdanken, ist dort zu lesen. Und dass Gewichtheben natürlich auch ohne Doping geht.

„Es ist so schade, dass sich kaum noch jemand für diesen Sport interessiert“, stellt Johann Martin fest. „Nur wegen des Vorurteils, jeder Gewichtheber sei automatisch gedopt. Dabei gibt es diese schwarzen Schafe doch in jeder Sportart – gucken Sie sich nur mal die Tour de France an.“

Dass Johann Martin den Nachwuchs überhaupt trainieren kann, hat er der Hamburger Bürgerstiftung zu verdanken, die das Projekt „Starke Jungs“ fördert. „Ohne ihre Finanzspritze wäre ich auf Hartz IV angewiesen“, sagt er und fügt hinzu: „Ich würde hier aber sowieso weitermachen. Ich bin schließlich Profi.“

Der Profi selbst begann bereits im Kleinkindalter an seiner Karriere zu feilen. „Als ich so klein war“, erzählt er und hält die Hand ziemlich tief, „da habe ich immer alles hochgehoben, immer schwerere Sachen. Das ist eine Gabe, das kommt von Gott.“ Professionelles Training gab es auch nicht in dem kleinen, kasachischen Dorf, aus dem Johann Martin stammt. Später studierte er in Almaty und wurde Sportlehrer, ehe er 1993 nach Deutschland kam. Seitdem widmet er sich nur noch dem Gewichtheben – als Profisportler, aber auch als Erzieher.

Einer seiner erfolgreichsten Rekruten ist Dimitri Schleiermacher, genannt Dima. „Früher hatte ich bisschen falsche Freunde“, erzählt Dima verlegen und schaut weg. „Da haben wir auch Scheiße gebaut.“ Früher, da war Dimitri 13. Heute ist er 15. Und Klassenbester. „Gewichtheben hilft einfach für alles“, erklärt Dima. „Ich kann mich heute einfach viel besser konzentrieren.“ Zigaretten und Alkohol seien für ihn tabu. Dazu braucht ihn der Trainer nicht mal zu drängen. „Das wäre ja dumm, dann könnte ich die Hantel gar nicht halten wenn mir die Puste fehlt.“ Die Hantel wiegt zu Beginn der heutigen Trainingsstunde 80 Kilo, später möchte er einen neuen persönlichen Rekord aufstellen: 100 Kilo. Mehr als eine durchschnittliche Waschmaschine.

„Mit meinen Jungs habe ich schon alle möglichen Preise gewonnen“, sagt Johann Martin fest. Dimitris Brüder Konstantin und Andrej waren deutsche und internationale Meister, vielleicht schafft es das Familienküken auch mal so weit. „Für die Bundesliga oder gar Olympia haben wir heute aber eine zu schlechte Ausstattung“, sagt Martin. „Die Matten sind ganz porös, die Hanteln sind schon alt, eigentlich müsste man hier alles renovieren.“

„Bisschen Ruhe!“, bittet Dima und die Stille wird ihm so schnell gewährt, wie es sich Klassenlehrer für seine Jahrgangsstufe nur wünschen können. Niemand spricht, niemand bewegt sich. Mit einem tiefen Brunftbrüllen wuchtet Dimitri die Hantel hoch, hält, hält, hält und – nachdem Johann Martin „Nun ist gut!“ ruft – lässt er das Gewicht auf den Boden krachen. Es gibt Applaus für Dimas Leistung. Der zeigt Respekt und ist höflich. Das haben die Jungs hier gelernt.