Grüner Fasan auf Brikett

Das beste, das ungeheuerlichste Deutsch der Gegenwart: Der erste Band einer Werkausgabe des 2007 verstorbenen Wolfgang Hilbig macht die Wut seiner frühen Gedichte wieder erfahrbar

VON ALEXANDER CAMMANN

Sein Schriftstellerkollege staunte noch nach Jahrzehnten über den einstigen 8.-Klasse-Abgänger, Boxer, Heizer; und darüber, „dass es da jemand in einem Heizungskeller bei Meuselwitz vermochte, Paris die Stirn zu bieten, und in der Hitze vor den Öfen die Moderne von Breton bis Joyce in sein Idiom umschmolz.“

Ingo Schulze meinte den 2007 verstorbenen Wolfgang Hilbig, der in Meuselwitz an der sächsisch-thüringischen Grenze aufgewachsen war. Der Büchnerpreisträger des Jahres 2002, so pries Schulze wenige Wochen vor Hilbigs Tod, könne „das beste, das ungeheuerlichste Deutsch der Gegenwart“ schreiben. Bereits 1980 hatte Franz Fühmann, in der DDR wichtiger Förderer vieler unangepasster Schreibtalente, Hilbig eine Begabung genannt, „wie sie die Zeit nur von Jahrzehnt zu Jahrzehnt hervorbringt“.

Lorbeerkränze wurden dem Dichter Hilbig vor allem am Ende seines Lebens gewunden. Hilbig-Leser wissen, dass es noch viel mehr hätten sein müssen. Der in der DDR verfemte Autor, 1941 dort geboren, siedelte 1985 in die Bundesrepublik über. Er blieb eine zerrissene Ost-West-Existenz. „Dieses Land triefend vor Schwachsinn, verkrüppelt vor Alter, zermürbt und verheizt von Verschleiß und übelriechend wie eine Mistgrube“ – so ließ Hilbig sein Alter Ego in dem großartigen Roman „Das Provisorium“ (2000) die DDR hassen, während der Westen ihm fremd blieb. Sein bekanntester Roman, „Ich“ (1993), umkreiste die sich selbst zersetzende Verräterseele eines schriftstellernden Stasi-Spitzels. Hilbigs Werke waren zeitlebens den Nöten einer oft aus der Bahn geworfenen Existenz abgerungen – eine ästhetische Mischung aus Kraft, Leid, Heftigkeit und Zärtlichkeit, die ihresgleichen sucht.

Der S. Fischer Verlag gibt nun eine auf sieben Bände angelegte Werkausgabe heraus, beginnend mit einer voluminösen Sammlung von Hilbigs Dichtungen. Eine lyrische Schatzkammer tut sich auf, die in ihrer erstaunlichen Vielstimmigkeit zutiefst beeindruckt. Neben 188 bereits publizierten Gedichten – u. a. „abwesenheit“ (1979), „stimme stimme“ (1983), „die versprengung“ (1986) und „Bilder vom Erzählen“ (2001) – findet man hier 153 Gedichte aus dem Nachlass, darunter den Zyklus „Scherben von damals und jetzt“ aus den 60er-Jahren: Das Schreibheft mit diesen Gedichten hatte einst die Stasi beschlagnahmt.

Wütend ist der junge Hilbig bereits hier: „In den großen Versammlungen /der großen Männer / … / Dort vorne seh’ ich sie sitzen / hinter des Vaterlands Fahnen / und ihre Brillen blitzen / wenn sie forden und planen“; es folgt die Vision eines Gewehrs, mit dem das lyrische Ich alle abschießt: „Totenstille, nach dem scharfen Knall, / ein kurzes Ächzen, ein dumpfer Fall; schon tot, fiel einer wie ’n Sack nach vorn“ […] „Ins Geschrei und in das Rasen / peitschen meine Kugeln“. Schließlich das ironische Ende: „Ja, meine ganze Welt, in der ich lebe / zerschlüge ich am liebsten so, dass sie sich nimmermehr erhebe. / Und dann baut’ ich eine neue hier, / doch – ich habe Durst; ich gehe lieber und trinke ein Bier.“

Die Anzeige, die der spätere Büchnerpreisträger 1968 in der DDR-Zeitschrift Neue deutsche Literatur schaltete, musste vergeblich bleiben: „Welcher deutschsprachige Verlag veröffentlicht meine Gedichte? Nur ernstgemeinte Zuschriften an: W. Hilbig, 7404 Meuselwitz, Breitscheidstraße 19b“.

Zwischen Novalis und George, zart glühend: Der breit sächselnde, scheinbare Proletarier Hilbig hatte sich früh die Traditionen von Romantik, Symbolismus und Expressionismus anverwandelt und mit den Farbtönen seiner geschundenen sächsischen Heimat aufgeladen: „die bagger blieben die dörfer sind fort / ein dürstender der sonne flieht und wolken / so floh aus jedem dorf der teich“. Ihm gelang es, im Dunkeln zu sehen: „im düstern kesselhaus im licht / rußiger lampen plötzlich auf dem brikettberg / saß ein grüner fasan / ein prächtiger clown“; nachdem dieser fortgeflogen war, „glaubte ich nicht mehr an den untergang / der wahrnehmungen in der finsternis“ („episode“, 1977). „als sie noch jung waren die winde“ heißt Hilbigs letztes Gedicht, März 2007: „jetzt wenn ich das land durchstreife / und nicht mehr weiß / wo ich bin / ... / und nichts mehr wissen will / in meinem herzen / denk ich an die winde / die alt geworden sind“.

Die Neue Rundschau hat in Heft 2/2008 Wolfgang Hilbig einen kleinen Schwerpunkt mit Erinnerungssplittern gewidmet. Bachmannpreisträger Lutz Seiler berichtet von seiner ersten Begegnung mit dieser Inspektor Columbo ähnelnden Gestalt; Uwe Kolbe und Marcel Beyer senden Hilbig Gedichte hinterher; sein Lektor Jürgen Hosemann hat Meuselwitz besucht, wo die Buchhändlerin nach Lektüreversuchen den „armen Menschen“ einfach nur „krank“ findet. Claudia Rusch erinnert an den Bob-Dylan-Fan Hilbig und sein letztes Dylan-Konzert, ein Abschied, wenige Wochen vor dem Tod.

„Ich bin kein Bürgerlicher. Ich bin ein Chaot, ein Rolling Stone“, hatte der vom Krebs Gezeichnete gemeint. Der letzte Satz in Ingo Schulzes Nachruf auf diesen rollenden Stein im Boxring hieß: „Wolfgang Hilbig, Du bist der Champion!“ Man lausche den Winden und lese diesen Dichterchampion, wieder und wieder – einer wie er ist nirgendwo in Sicht.

Wolfgang Hilbig: „Gedichte. Mit einem Nachwort von Uwe Kolbe“. Werke Bd. 1, S. Fischer, 538 Seiten, Frankfurt a. M. 2008, 22,90 Euro Neue Rundschau, Heft 2/2008: Wolfgang Hilbig, 158 Seiten, 12 Euro