Blut ist im Kleid

In María Cecilia Barbettas Roman „Änderungsschneiderei Los Milagros“, der in Buenos Aires angesiedelt ist, fürchtet die jungfräuliche Heldin Mariana Nalo sich einschleimende Schnecken und ihr Alter Ego Analía Morán

VON NINA APIN

Mariana Nalo lebt mitten im Zentrum von Buenos Aires – und doch hat ihr Alltag wenig mit der sie umgebenden Millionenstadt gemein. Das Universum der jungen Frau, die ihren Lebensunterhalt als Schneiderin verdient, bevölkern aufgespießte Schmetterlinge, imaginäre Nacktschnecken und weiße Stecknadeln. Den Fußweg zwischen dem Haus, in dem sie mit ihrer überbehütenden Mutter lebt, und ihrem Arbeitsplatz teilt Mariana in Schritte und darauf abgestimmte Armbewegungen ein – stets darauf bedacht, die zuvor festgelegte Schrittzahl einzuhalten und dabei das Kreuzzeichen an der Kirche nicht zu vergessen.

Die Protagonistin in María Cecilia Barbettas Roman „Änderungsschneiderei Los Milagros“ ist nicht verrückt, nur etwas wunderlich. Sie meidet Schwarz-und Grautöne – weil die sie an Schnecken erinnern. Einen bestimmten Frauentyp nimmt sie als Spinnen wahr, seit sie als Mädchen deren unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihren Vater bemerkte. Und wenn sie mit ihrem Freund die Konditorei Las Violetas (Veilchen) besucht, hüllt sie sich mit Akribie in passendes Veilchenparfüm und ein blau geblümtes Kleid. Das Schneider-Atelier ihrer Tante Milagros ist für Mariana mehr Wunderkammer als Arbeitsplatz: Die Stecknadeln, Garnspulen, Stoffballen und Holzpuppen sind für sie genauso lebendig wie ihre drei Kolleginnen.

In der träumerischen Mariana steckt ein gutes Stück argentinische „Amélie“. Doch vor der süßlichen Nettigkeit der französischen Filmfigur hat ihre Schöpferin Mariana bewahrt, indem sie deren Wunderkosmos immer wieder mit der Realität zusammenprallen lässt: Das Kind findet den geliebten Vater, einen Insektenforscher, der nach seinem Herzinfarkt am Schreibtisch zur grotesken Leiche wurde. Marianas Jungfräulichkeit wird von der Mutter und Marianas Angstfantasie so eisern verteidigt, dass ihr Freund Gerardo schließlich die Geduld verliert. Während Mariana und ihre Mutter von Hochzeit träumen, setzt er sich in die USA ab.

Hier beginnt die eigentliche Handlung dieses verschachtelten Romans, der sich erkennbar auf den „magischen Realismus“ argentinischer AutorInnen wie Jorge Luis Borges, Sylvina Ocampo oder Julio Cortázar bezieht: In die Änderungsschneiderei Milagros kommt eine neue Kundin. Die liebeskummergebeutelte Mariana beschließt, das Hochzeitskleid für die gleichaltrige Analía Morán anzufertigen. Wie in einem Spiegel von Borges findet sich die eine Frau in der anderen wieder. Die Erzählperspektive wechselt zwischen Mariana und Analía, bis die gescheiterte Beziehung dieser einen Schatten auf das bevorstehende Eheglück jener wirft. Der mit Schnittmustern, Abhandlungen über Gottesanbeterinnen oder Zitaten aus „Alice im Wunderland“ bebilderte Roman fächert sich auf zu einem multiperspektivischen Labyrinth, in dem es keine Gewissheiten gibt.

Hat sich Mariana im Hinterzimmer einer Diskothek tatsächlich Gerardo hingegeben oder ist sie im Licht der Laser eingeschlafen? Ist Analías Verlobter Roberto ein im Viertel gesuchter Prostituiertenmörder, wie die Schneidermeisterin Milagros vermutet? Oder ist Roberto am Ende gar identisch mit dem untreuen Gerardo?

Als Mariana Nalo mit den Buchstaben ihres Namens spielt, entpuppt er sich als Anagramm von „Analía Morán“. Vielleicht ist die andere nur eine Abspaltung von Marianas Selbst, wie folgende Textstelle nahelegt:

„Wie wohlkalkuliert dieses Kuckuckskind von Analía Morán vorgeht! Sie fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. Widerliches Sicheinschleimen! Schon wieder spielt sie Demiurg. Sie panscht. Ich werde nicht zulassen, dass Frauen wie du, mit denen ich irrtümlicherweise verwechselt werden könnte, mir nachspionieren! Du ich? Nie und nimmer! Solange ich lebe! Solange ich Mariana Nalo heiße! Ihr ist kotzübel. Die verrückt sie Buchstaben. Verrückt sie Buchstaben die. Buchstaben die verrückt sie. Sie die verrückt Buchstaben. Verrückt Buchstaben die sie. Die sie Buchstaben verrückt. Sie Buchstaben verrückt die. Die Buchstaben verrückt sie.“

Spielerisch verflechten sich in „Änderungsschneiderei Los Milagros“ nicht nur die Erzählstränge. María Cecilia Barbetta spielt auch gekonnt mit Lauten, Wörtern und ihren Bedeutungsebenen. Das Sprachspiel ist umso erstaunlicher, als die 1972 in Buenos Aires geborene Autorin nicht in ihrer Muttersprache schreibt, sondern auf Deutsch. Gelegentlich merkt man Redewendungen wie „Streckst du jetzt für immer die Pfote aus?“ ihren spanischen Ursprung an. Zusammenziehungen wie „Mariana-Zeitverwalterin“ und „Mariana-Nacktschneckenjägerin“ passen zum spielerischen Grundton des Buchs.

Was dessen Kulisse angeht, kann man froh sein, dass sich die seit 1996 nach Berlin ausgewanderte Autorin für ihre Heimatstadt entschieden hat. Charaktere wie die gluckenhafte, von katholischer Sexualmoral besessene Mutter die allwissende Friseuse Doña Clara oder den zwischen Spielhalle und Uni pendelnden Macho Gerardo passen wunderbar in das bodenständige Stadtviertel Almagro. Dessen Orte, die bröckelnde Art-Deco-Konditorei Las Violetas mit ihren livrierten Kellnern, die schäbigen Arbeiterbars und engen „Conventillo“-Häuser aus der Zeit der ersten Einwanderer, sind mit liebevollen Details gezeichnet.

Wer noch nicht in Buenos Aires war, wird nach der Lektüre Lust bekommen, es zu besuchen. Laut den Gesetzen des magischen Realismus könnten sich hinter jeder Straßenecke ein Puff oder ein versteckter Garten auftun. Ein Linienbus könnte aus den Fugen geraten, aus einer jungen Frau plötzlich zwei werden. Solch argentinische Gemütslagen hervorzurufen gelingt der jungen Barbetta fast ebenso gut wie vor ihr Julio Cortázar, allerdings in einer dezidiert weiblichen Erzählwelt. Dass all die schönen Stoffballen, halbfertigen Hochzeitskleider und bonbonfarbenen Jungmädchenträume eine böse Kehrseite haben, versteht sich dabei von selbst.

María Cecilia Barbetta: „Änderungsschneiderei Los Milagros“. S. Fischer, 336 Seiten, 19,90 Euro