Die durchlöcherte Schnapsflasche

Jenseits der Klischees von Erdbeben, Smog und Korruption: Die Ausstellung „Citámbulos – Stadtwandeln in Mexiko-Stadt“ im Deutschen Architekturzentrum nähert sich auf ungewöhnliche Weise der Maßlosigkeit der Metropole

Immer wieder rattert die Maschine. Normalerweise zählt sie Banknoten, im Deutschen Architekturzentrum (DAZ) aber sind es Bilder, die wie beim Daumenkino vom Werden einer Stadt erzählen: Mexiko-Stadt.

Dass die 20-Millionen-Einwohner-Metropole mit den gängigen Klischees Erdbeben, Smog, Wachstum und Korruption nicht mal annähernd charakterisiert ist, beweist jetzt eine Ausstellung, die einerseits zum Modethema Megastädte passt, andererseits aber auch heraussticht. Denn selten ist es bisher gelungen, den Kosmos einer Megastadt so lebensnah, so informativ und spielerisch zugleich in einen Veranstaltungsraum zu transferieren wie hier. Zu verdanken ist dies einer Gruppe von vier Forschern aus den Bereichen Architektur, Mathematik, Literatur und Philosophie mit dem programmatischen Namen Citámbulos, zu Deutsch Stadtwandeln. „Anfangs sind wir nur unserer Neugier gefolgt, weil wir ein Buch von Bewohnern für Bewohner schreiben wollten“, erklärt Christian von Wissel, der gemeinsam mit Fionn Petch, Ana Àlvarez und Valentina Rojas Loa seit mehreren Jahren Mexiko-Stadt untersucht. Mit Hilfe des DAZ und der Alfred Herrhausen Gesellschaft sind die Recherchen der Gruppe nun nach Berlin gekommen.

Das Stadtwandeln im musealen Sinne beginnt schon bei der Ausstellungsarchitektur. Mit aufgetürmten Plastikkisten und daran montierten Videobildschirmen, Fotoserien und kleinen Gegenständen haben Citámbulos einen Dschungel geschaffen, in dem der Besucher sich gern verläuft. Die einzelnen Themen sind wie ein Metroliniennetz organisiert. So behandeln die Stationen der Linie A etwa die Maßlosigkeit der Stadt, ihr unkontrolliertes Wachstum durch Selbstbausiedlungen und die paradoxe Gleichzeitigkeit von permanenter Wasserknappheit und drohenden Überschwemmungen.

Andere Stationen tragen Namen wie „Flickwerk“, „Weltnabel“ oder „des Pudels Kern“ und berichten von Müllsammlern und Straßenhändlerorganisationen, von durchlöcherten Schnapsflaschen, die zum Rasensprengen dienen, oder von Lagerräumen aus Milchpackungen und Hühnerdraht. Vom Einfallsreichtum der Armen führt uns Citámbulos geradewegs zu den abgeschotteten Quartieren der Reichen, von den Mauerseglern in Schächten der Klimaanlagen direkt zu den Schoßhunden in die Wohnzimmer der Oberschicht.

Die kurzweiligen und bildhaften Texte erzählen vom Herzen der Stadt, dem Zócalo, vom Kult um die Heilige Frau des Todes und vom Kampf um politische Mitbestimmung nach dem verheerenden Erdbeben 1985. „Die Stadt ist mehr als nur Mauern, sie ist Tanzsaal und Restaurant, Markt und Fußballplatz.“ Dieser Satz sagt viel über die Liebe der Citámblers zu ihrer Stadt.

Dennoch lassen sie auch krasse Fakten nicht aus. Zum Beispiel, dass die Mitgliedschaft in Straßengangs für viele Kinder eine Form des Überlebens bedeutet, dass 65 Prozent der Bewohnerinnen Opfer von körperlicher oder verbaler Gewalt auf offener Straße sind oder dass im Durchschnitt jeder Bewohner 650 Euro im Jahr für seine private Sicherheit ausgibt. Über einen Strohmann gelang es der Gruppe sogar, die Konversation einer der häufigen aus Gefängnissen organisierten Scheinentführungen aufzuzeichnen. Darin gibt ein Gefängnisinsasse vor, eine Frau in seiner Gewalt zu haben, und versucht per Telefon ihren Sohn zu einem Ort zu leiten, an dem die Übergabe des Lösegeldes an seinen Komplizen stattfinden soll.

Es scheint, als hätte Citámbulos keine öffentliche Toilette, keinen Abwasserkanal und auch keinen Sicherheitszaun ausgelassen, um tief in die Stadt einzudringen. An dieser Art Suche nach dem wahren Leben sollten sich die Stadtanalytiker ein Beispiel nehmen.

FRIEDERIKE MEYER

Ausstellung im Deutschen Architekturzentrum. Weitere Infos unter: www.daz.de