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: Der innere Gesang eines jungen Israeli

Man kennt ja dieses Gefühl: Man möchte etwas sagen und bekommt es einfach nicht heraus. Die Zunge ist wie gelähmt und der Mund bleibt stumm, obwohl man sich die Worte schon zurechtgelegt hatte. Geständnisse können so etwas auslösen, natürlich auch Liebesgeständnisse, oder Prüfungen. Dem Jungen in Avram Kantors Roman, der seinen Namen nicht nennt, ergeht es ähnlich: In seinem Kopf, da ist alles drin, nur sagen kann er es nicht. Und weil er nicht sprechen kann, glauben die Menschen, er hätte nichts mitzuteilen.

Die Eltern rätseln natürlich, was mit ihrem Sohn los sei. Und so liegen dann haufenweise Bücher über Autismus in der Stube rum. Doch der Sohn entzieht sich der Einordnung. Heimlich bringt er sich Lesen und Schreiben bei, und nach gründlicher Lektüre befindet er, dass er ein Autist auf keinen Fall sei. „Der Autist ist unfähig, eine Beziehung zu seiner Umgebung einzugehen“, steht in einem der Bücher etwa, was man nun wirklich über den Jungen nicht sagen kann. Es ist eher so, dass seine Beziehungen für die Sprechenden nicht sichtbar sind. Es ist ihm unmöglich, „die innere Stimme nach draußen zu bringen“, woraus andere schließen, eine innere Stimme sei gar nicht vorhanden. Doch der Junge hört seine innere Stimme sehr genau und er entdeckt an sich sogar eine besondere Begabung: „Niemand kann hören, wie schön ich singen kann.“ Diesen Gesang kann nur er selbst hören, denn wenn er tatsächlich zu singen versucht, kommen nur grunzende Laute hervor.

Dass ein Mensch sein Inneres nicht vollständig mitteilen kann, dass er bis zu einem gewissen Grad allein mit sich bleibt, ist Teil seiner Existenz. Dies zu entdecken gehört zum Erwachsenwerden wie der erste, flaumige Bartwuchs. Und so hat der Israeli Avram Kantor mit seinem Roman über einen autistisch anmutenden Jungen auch ein Buch über die existenzielle Einsamkeit und ihre Entdeckung geschrieben.

Aber es gibt auch eine spannende Geschichte. Sie erzählt, wie Kobi, der Bruder des Jungen, Kontakt zu Ultraorthodoxen aufnimmt und allmählich in ihre Fänge gerät. Wie die Kluft zwischen dem aufgeklärt-liberalen und weitgehend unreligiösen Elternhaus und ihrem plötzlich frommen Sohn wächst. Denn je mehr die Eltern Kobi zu überzeugen versuchen, desto näher kommt er den Religiösen. Es ist vor allem eine Kluft der Sprachlosigkeit, des Sich-nicht-mitteilen-Könnens und des Nicht-verstehen-Könnens, die sich da auftut. Worte werden gewechselt, aber nicht mehr verstanden. Und plötzlich spüren auch jene in der Familie, die sprechen können, jene Einsamkeit und Fremdheit, die zuvor nur der Stumme zu kennen schien.

Das ist schmerzlich, aber es ermöglicht auch, den Stummen anders zu sehen. Besonders Kobi, der seinen Bruder zuvor nicht besonders zu mögen schien, fühlt sich ihm plötzlich nah in einer Weise, die er sich nicht hätte vorstellen können. Und so kommt es zur Verbrüderung zweier Brüder, die lange kaum etwas voneinander wussten.

Kantor ist ein konsequenter Erzähler, der die Perspektive des stummen Jungen nie verlässt. Die Sprache des Sprachlosen gibt den Ton im Roman vor. In ihr schwingt ein Staunen mit über die Wörter und ihren Sinn, das meistens beim Erwachsenwerden irgendwann verloren geht. Ein Staunen auch über das Ungesagte und vor allem über das Unsagbare, das sich nur noch als innerer Gesang zu artikulieren weiß. ANGELIKA OHLAND

Avram Kantor: „Die erste Stimme. Ich und mein Bruder – mein Bruder und ich“. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Carl Hanser Verlag, München 2008, 208 Seiten, 14,90 Euro