Die Tat eines Einzelnen

Maro Temm in Kiel ist das bundesweit erste Wohnprojekt für Sinti-Familien. Am Montag hat das Projekt seine bislang größte Krise überstanden: Den Prozess gegen Wolfgang B., der sich als Vorstandsmitglied aus der Kasse von Maro Temm bedient hatte

von Esther Geißlinger

13 Reihenhäuser, freies Land drumherum, jede Menge Trubel im Mini-Dorf: Maro Temm, „unser Platz“, heißt das bundesweit erste Sinti-Wohnprojekt. 13 Familien, etwa 50 Menschen, leben auf dem Grundstück am Südrand des Kieler Stadtteils Gaarden. Nicht der schönste Ort der Stadt – Schienen verlaufen unweit des Grundstücks, die Nachbarn sind Gewerbehallen.

Die Sinti-Familien und der Landesverband Deutscher Sinti und Roma sind dennoch froh darüber, dass es mit dem Bau geklappt hat – es war schwierig genug. Jahre dauerte es, bis die Stadt ein Grundstück benennen konnte, auf dem die Wohngenossenschaft bauen durfte. Und dann, im März 2006, flog die Sache mit Wolfgang B. auf: Das Vorstandsmitglied der ehrenamtlich geführten Genossenschaft hatte in die Kasse gelangt. Am Montag musste sich der 38-Jährige vor dem Kieler Landgericht verantworten.

„Wir standen am Rand der Insolvenz“, erinnert sich Renate Schnack, damals Minderheitenbeauftragte des Landes und Vorstandsmitglied bei Maro Temm. Den Posten hat sie immer noch – und ihr und den weiteren Vorständen gelang es, das Projekt zu retten: „Wir sind offen mit der Sache umgegangen und sind allen Partnern dankbar, dass sie uns weiter unterstützt haben.“ Vor allem „blieb diese Häme aus, die wir befürchtet hatten: Dass ausgerechnet ein Sinto so etwas tut, bedient dieses typische Klischee“, sagte Schnack. „Aber es wurde verstanden, dass es die Tat eines Einzelnen war. Die Gruppe ist stark geblieben und hat es geschafft.“ Bis heute findet sie aber „richtig schäbig“, dass B. Geld nahm, das von Spendern und Sinti-Familien eingezahlt worden war – Eigenkapital für das Projekt, das vor allem über öffentliche Kredite für sozialen Wohnungsbau finanziert wurde.

Wolfgang B., ein massiger Mann mit weichem Gesicht, saß neben seinem Anwalt, er knetete seine Hände, während die Staatsanwältin die Liste seiner Taten verlas. 62 Vorwürfe waren es, die alle auf dasselbe hinaus liefen: Wolfgang B. hatte sich eine Kreditkarte für das Konto der Genossenschaft besorgt und setzte sie ein. Er bezahlte an der Tankstelle, im Supermarkt, er hob Geld an Automaten ab. Anfangs, im Oktober 2005, waren es kleinere Beträge, 30 Liter Benzin, 100 Euro aus dem Automaten, 82 Euro für einen Wocheneinkauf im Penny-Markt. Innerhalb weniger Wochen wuchsen die Summen drastisch an: Mal 200, mal 300 Euro aus dem Automaten, ein Handy-Vertrag. Nach Neujahr war der Damm ganz gebrochen: Mehrfach pro Woche hob B. den Höchstbetrag ab, den er mit der Karte erhalten konnte, 1.300 Euro.

Als die Sache Ende Februar aufflog, weil ein anders Vorstandsmitglied die Sache bemerkte, fehlten 28.000 Euro, damit war der Betrag – ursprünglich etwa 34.000 Euro – beinahe ! ausgeschöpft. Renate Schnack erstattete Strafanzeige. B. wies anfangs alle Beschuldigungen von sich, doch es gab Bilder der Kameras an den Geldautomaten. Später gestand er, auch am Montag im Gerichtssaal bekannte er sich zu den Taten: „Es tut mir Leid, ich habe Mist gebaut.“

Er war damals gebeten worden, in den Vorstand zu kommen. Das Projekt brauchte ihn: „Viele Sinti können nicht schreiben und lesen“, sagte B. Er besaß einen Hauptschulabschluss, war ein Einäugiger unter Blinden – und im neuen Amt plötzlich wichtig. Eine Lehre hat er nie gemacht, nach der Schule schlug er sich mit ABM-Stellen durch, später lebte die Familie von Hartz IV. Bei seiner Frau war gerade Multiple Sklerose festgestellt worden. Durch den Zugriff auf das Konto ließen sich Rechnungen bezahlen, das Leben wurde ein wenig leichter. Große Ausgaben hat er wohl nicht gemacht, eine Uhr für die Frau ja, dickes Auto nein: „Ordentlich und sozial adäquat“ sei die Wohnung gewesen, sagte der Polizist, der damals ermittelte. „Er saß im Zug und konnte nicht bremsen, bis es geknallt hat“, beschrieb der Verteidiger B.s Verhalten.

Die Staatsanwältin forderte über drei Jahre Haft, der Verteidiger plädierte auf zwei Jahre mit Bewährung, unter anderem, weil die Summe verhältnismäßig gering gewesen sei: „In anderen Fällen werden Millionenbeträge unterschlagen, Arbeitsplätze und Firmen vernichtet.“ Auch sei zu bedenken, dass B. seine kranke Frau pflege. Das Gericht schloss sich dem an. 150 Stunden gemeinnützige Arbeit muss B. leisten.

Maro Temm konnte gerettet werden, es gab neue Spenden, und Land und Stadt standen zu ihren Zusagen. Die Bank räumte eine Mitschuld ein – sie gab dem Verein 13.000 Euro zurück. Im Mai fand das Richtfest statt. Maro Temm soll in ein Sozialkonzept der Stadt eingebunden werden: Vor allem für die Kinder solle mehr getan werden, wünscht sich Renate Schnack: „Sie sollen selbstbewusste Sinti sein, die in der Mehrheitsgesellschaft zurechtkommen.“ Nur weil eine größere Gruppe zusammenlebt, seien solche weiterführenden Projekte möglich: „Sie können dort ihre Sprache und ihre Kultur pflegen. Ohne ein gemeinsames Haus würde die Minderheit zugrunde gehen.“ Einzig Wolfgang B. bleiben die Türen verschlossen: „Die eigene Gruppe betrügen ist das Schlimmste, das ein Sinto machen kann“, sagte sein Verteidiger.