Analphabetismus ist kein unabänderliches Schicksal

Christian Helmig war 16 Jahre lang Analphabet. Dann drückte er noch mal die Schulbank – um seinem Sohn zu zeigen: Auch ich kann lesen!

Als Christian Helmig die Schule verließ, war es mit seinen Sprachkenntnissen nicht weit her. „Ich konnte ein ‚X‘ nicht von einem ‚U‘ unterscheiden“, sagt der 46-Jährige. So blieb es fast 20 Jahre. Helmig brauchte Kollegen und Freunde, die ihm halfen, Texte zu entziffern und zu verstehen. Als Helmigs Sohn unterwegs war, bekam der Vater Albträume. „In sechs Jahren würde er in die Schule gehen und ich ihm nicht bei den Hausaufgaben helfen können“, erinnert sich Helmig an seine Gedanken damals. Also beschloss er, den Kampf mit den Buchstaben aufzunehmen. Wieder aufzunehmen.

Wie Helmig geht es fast vier Millionen Menschen in Deutschland: Sie können nicht lesen, sie können oft nur ihre Unterschrift schreiben. Doch die Zahl ist alt, und weil man es im Zuge von Bildungsgipfeln und Pisastudien genau wissen will, soll nun erneut nachgezählt werden. „Politik braucht verlässliche Daten, um begründete Entscheidungen treffen zu können“, sagt Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung. Daher fördert Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) eine Vorstudie. Sie soll klären, ob es machbar ist, die Größenordnung des funktionalen Analphabetismus zu beziffern.

Christian Helmig ist ein Beispiel, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben.

16 Jahre nachdem er die Schule verlassen hatte, begann er mit seinen Freunden und einer Fibel wieder erste Lese- und Schreibübungen. Bald wollte er mehr, als nur die Buchstaben auseinander halten zu können: „Ich wollte einfach mal die Zeitung lesen.“

„Ich habe nicht wirklich darunter gelitten, dass ich weder schreiben noch lesen konnte“, erinnert sich Helmig fast mit Stolz. Freunde wie Bekannte wussten von seiner Schwäche, mit der immer offen und selbstbewusst umging. Dafür sei er schon immer gut im Rechnen gewesen, sagt er. „Ab und zu bekam ich auch blöde Kommentare zu hören“, ärgert sich Helmig.

Kein blöden Kommentare, sondern Hilfe bekam er von Arbeitskollegen. Er hatte sich vom Lagerarbeiter zum Maschinenführer hochgearbeitet. „Nach Feierabend nahm sich mein Chef oft eine halbe Stunde Zeit, um mir beizubringen, was auf den Produktionszetteln stand.“ Helmig erfand allerlei Tricks, um nicht die 25 Komponenten für die Herstellung von Spachtelmasse durcheinanderzubringen: Wenn eine Komponente mit „N“ anfing, dachte er an seine Tochter Nadine und speicherte so das Wort als ein Bild im Kopf ab. Mit diesen Eselsbrücken konnte er schnell die Wörter auf dem Zettel mit denen auf den Säcken oder Fässern vergleichen und so das Richtige zusammenmischen.

Die Schuld an seiner Situation gibt Christian Helmig der Schule: „Fünf Jahre lang hat es meine Lehrerin nicht interessiert, dass ich weder schreiben noch lesen konnte.“ Erst im letzten Halbjahr bemerkte ein neuer Lehrer, dass Helmig nicht einmal seinen eigenen Namen richtig schreiben konnte. „Ohne ihn hätte ich weiterhin drei Kreuze machen müssen.“ Der neue Lehrer versuchte alles, um Analphabeten Helmig ein weiteres Jahr auf der Schule zu behalten. Vergeblich. Ohne Abschluss und Kenntnisse verließ Helmig die Sonderschule.

Da nie ein blauer Brief nach Hause kam, hatten seine Eltern keine Ahnung von seinen Problemen mit den Buchstaben. Auf dem Zeugnis stand jedes Jahr nur kurz: Lesen und Rechtschreibung wegen der Legasthenie nicht bewertet. Legasthenie oder Analphabetismus – Christian Helmig versuchte es gar nicht erst herauszufinden. Sondern ging mit 30 Jahren wieder in die Schule, diesmal in die Osnabrücker Volkshochschule. Er machte einen Eignungstest und staunte nicht schlecht: „Es stellte sich heraus, dass ich vielmehr konnte, als ich mir zugetraut habe.“ Kurs für Kurs absolvierte Helmig und arbeitete später sogar an einer Zeitung mit. Ehemalige Kursabsolventen trafen sich, um Artikel zu schreiben. „Es war toll. Wir haben alles selber gemacht, bis hin zum Druck.“

Nach sieben Jahren Schule ist Helmig zwar keine Leseratte geworden. Aber wenn es ihn überkommt, liest er ein Buch in einem Stück durch. Er ist zufrieden, dass er einen Brief lesen und beantworten kann. Außerdem verpasst er niemals einen Elternsprechtag und informiert sich ständig über die schulischen Erfolge seiner drei Kinder. Gern erzählt er von den Abenden, an denen er ihnen Gutenachtgeschichten vorlas. „Damals habe ich ewig gebraucht, aber meine drei Kinder saßen die ganze Zeit mucksmäuschenstill um mich herum und hörten gespannt zu.“ Auch heute noch lobt ihn seine Tochter manchmal: „Papa, du kannst das gut.“ JULIA WALKER